Umbruch in der operativen Wirbelsäulenbehandlung – Das Einführen einer dynamischen Komponente
Die Druckentlastung im Wirbelkanal und in den Nervenaustrittsöffnungen aus der Wirbelsäule behebt auf Dauer nur einen geringen Teil des chronischen Wirbelsäulenleidens, und zwar hauptsächlich den Nervenschmerz bzw. die neurologischen Defizite, welche durch die Funktionsstörung der gedrückten Nervenwurzeln verursacht werden. Dabei gibt es viele Möglichkeiten der Druckminderung: epidurale Installationen, abschwellende Mittel, wie z.B. Cortison oder Kochsalz, endoskopische Eingriffe, mikrochirurgische Bandscheibenoperationen und auch die konventionelle makroskopische Druckentlastung des Spinalkanals.
Dennoch bleibt all dies eine symptomatische Therapie, und vom Prinzip her gibt es eigentlich keinen Unterschied zur konservativen, ebenfalls symptomatischen Therapie. Die aktuelle Wirbelsäulenwissenschaft beschäftigt sich in den letzten zehn Jahren daher auch verstärkt mit dem Verständnis der Ursache des Wirbelsäulenleidens. Zum besseren Verständnis der neuen Konzepte werden im Folgenden Erläuterungen zu der Funktion eines Wirbelsäulenabschnittes und zum Verlauf einer Degeneration gegeben: Gehen wir von einem gesunden Wirbelsegment bzw. Wirbelgelenk aus, so besteht die Wirbelsäule aus einer Matrix, aus Bändern, die wie das Laminat eines Autoreifens in unterschiedlichen Richtungen angeordnet sind und kaum oder gar nicht dehnbar sind.
Flüssigkeitsaufnahme der Bandscheiben ist wichtig
In der Mitte gibt es eine kleinere Kammer, den so genannten Gallertkern. Genauso wie auch unsere Organe im Körper eine bestimmte Funktion ausüben, kommt auch der Bandscheibe eine Aufgabe zu: Sie nimmt phasenweise Flüssigkeit in sich auf und gibt sie wieder ab. Dadurch entsteht ein sehr hoher Druck, der weit über den Druck im Inneren eines Autoreifens hinausgeht (7 bis 20 bar). Dieser Druck spannt die Bänder und bestimmt ihre Richtung. Im hinteren Bereich der Wirbelsäule, also hinter dem Spinalkanal (die Bandscheibe ist im vorderen Bereich), befinden sich die beiden Wirbelgelenke. Sie sind links und rechts vom Spinalkanal angeordnet. Sie besitzen wie andere Gelenke auch Gelenkkapseln, knöcherne Gelenksflächenanteile und einen Knorpelbezug mit Gelenkflüssigkeit. Die Gelenkflächen sind hierbei klein, und jedes Gelenk hat ein Bewegungszentrum.
Auch das Wirbelsäulensegment ist ein Gelenk und verfügt über ein Bewegungszentrum. Dies befindet sich kurz unterhalb der Deckplatte des unteren Wirbels. Die Gelenkflächen in den beiden hinteren Wirbelgelenken gleiten zueinander und bewegen sich im Kreis um das Bewegungszentrum. Die Bewegung ist aber nicht genau in einem Punkt lokalisiert, sondern verläuft innerhalb eines bestimmten Radius, den wir uns wie einen kugeligen Raum vorstellen müssen. Größe und die Ausrichtung des Volumens sind durch die individuelle Bauweise von Mensch zu Mensch genau definiert und an die Gesamtwirbelsäule angepasst.
Bänder müssen Bewegungen begrenzen
Auf Grund ihrer Größe können die Gelenkflächen jedoch nicht die Bewegung limitieren wie z.B. die Pfanne eines Hüftgelenkes. So müssen die Bänder der Bandscheibe bzw. ihre Matrix auftretende Bewegungen in allen Richtungen begrenzen. Dies können sie aber nur dann tun, wenn sie unter dem notwendigen Druck richtig gespannt sind. Bei einem Ernährungsschaden der Bandscheibe passiert es nun, dass die Bandscheibe ihrer Aufgabe, den inneren Druck zu erzeugen, nicht mehr gerecht wird. Wodurch ein solcher Bandscheibenschaden auftritt, ist auch heute noch nicht restlos geklärt. Die Folge ist jedoch, dass der Wassergehalt der Bandscheibe absinkt und die Spannung der Bänder nachlässt. Wir erkennen das in den kernspintomographischen Aufnahmen der LWS als Helligkeitsverlust des Bandscheibensignals und Verlust der Bandscheibenhöhe. Die Bänder verlieren ihre Ausrichtung und das Bewegungszentrum ist nicht mehr in seiner definierten Lage begrenzt. Es kommt zu einer Ausweitung bzw. einem Heraustänzeln des Bewegungszentrums. Der Außenbereich ist nicht mehr deckungsgleich mit dem Bewegungszentrum der beiden kleinen Wirbelgelenke.
Arthrose der Wirbelgelenke führt zu Instabilität
So kommt es zu einer falschen Druck- und Bewegungsbelastung in den Gelenksspalten der kleinen Wirbelgelenke. Dies führt ähnlich wie bei allen anderen Gelenken des Körpers zu einer Arthrose der Wirbelgelenke und den damit verbundenen Beschwerden: Es entwickelt sich das Bild einer degenerativen Instabilität in einem Segment.
Wir sprechen hier von einer fälschlich erhöhten Beweglichkeit des Segments, einer sog. „hypermobilen Phase“. Da der Körper über Selbstheilungstendenzen verfügt, versucht er, diese falsche Hypermobilität zu begrenzen. Die Bänder straffen und verkürzen sich und passen sich an das neue Bewegungszentrum an – die Beschwerden werden vorübergehend besser. Fatal hierbei ist die Tatsache, dass sich das Bandscheibengewebe nicht erneuern kann, weil es in der Bandscheibe keine Gefäße gibt, die eine Neubildung der Knorpelzellen möglich machen. Die Degeneration geht also weiter. Das Bandscheibenfach sinkt mehr und mehr zusammen, und die Spondylarthrose der kleinen Wirbelgelenke nimmt zu. Wenn das Bandscheibenfach über ein bestimmtes Maß hinaus zusammengesunken ist und sich die Bänder gestrafft haben, geht die Degeneration in die zweite Phase über.
Diese Phase ist die Phase der verminderten Beweglichkeit, die so genannte „hypomobile Phase“. Die Beschwerden, unter denen der Patient in dieser Phase leidet, klingen langsam ab, es sei denn, dass durch das Zusammensinken an den Nervenaustrittsstellen oder durch die Kalkablagerungen bei den Spondylarthrosen die Nerven beengt werden und dadurch eine Irritation der neuralen Strukturen entsteht. Durch die Hypomobilität des Segments entsteht jedoch eine Mehrbewegungsbelastung, ein Bewegungsstress in den benachbarten Segmenten. Dieser Bewegungsstress verschlechtert die nutritiven Verhältnisse in diesen benachbarten Etagen. Wenn diese bereits einen Ernährungsschaden vorweisen, wird die Degeneration nochmals beschleunigt.
Jetzt beginnt die dritte Phase der Erkrankung: die Ausweitung der Degeneration auf benachbarte Wirbeletagen.
Dominoeffekt führt zu immer mehr Schäden
Es kommt zu einem Dominoeffekt: der Degeneration in einem definierten Wirbelsäulenabschnitt. Welche Segmente hauptsächlich dafür anfällig sind, sieht man aus der Häufigkeitsverteilung der Degeneration. Dabei können wir feststellen, dass hauptsächlich solche Segmente betroffen sind, die weniger bewegliche Wirbelsäulenabschnitte mit beweglicheren Wirbelsäulenabschnitten verbinden. Im oberen Bereich der Wirbelsäule ist der craniocervikale Übergang (die ersten zwei bis drei Wirbel und die Schädelkalotte) beweglich, die Brustwirbelsäule dagegen fast unbeweglich. So sind im Bereich der HWS anfällig für Degenerationen: HWK 4/5, 5/6 und 6/7 mit steigender Tendenz zu dem minderbeweglichen Abschnitt der BWS. Im Lendenbereich ist das Kreuzbein mit dem über das Iliosakralgelenk verbundenen Beckenknochen der unbewegliche Anteil, kopfwärts der Brustwirbelbereich. Der mehrbewegliche Bereich ist die Lendenwirbelsäule.
Hauptsächlich betroffen sind daher die Grenzsegmente LWK 5/SWK 1, LWK 4/5 und LWK 3/4.
Was konnte bisher die Medizin dagegenhalten?
Es gibt die konservative Therapie, welche beschwerdelindernd wirkt. Sie hilft, den Spontanheilungsprozess von der hypermobilen in die hypomobile Phase zu erleichtern, welche irgendwann mit einer Eigenversteifung beendet ist. Sie hat aber keine Einwirkung auf den Dominoeffekt, d.h. – wie oben erläutert – das Übergreifen der Degeneration auf die benachbarten Etagen. Und es gibt die operative Therapie, die sozusagen diese Spontanversteifung beschleunigt. Aber auch sie kann das Fortlaufen der Degeneration nicht verhindern. Zwar ist es möglich, alle in Frage kommenden Etagen auf einmal in der richtigen Geometrie zu versteifen und sozusagen den Endzustand einer potenziellen Selbstheilung vorauszunehmen – diese Art der Therapie geht jedoch mit einem sehr hohen operativen und postoperativen Aufwand einher, bei höchst unterschiedlichem Erfolg.
Nicht zuletzt deswegen versuchte man, Therapien zu entwickeln, welche die Bewegung, wann immer dies möglich ist, erhalten: Die Versteifung wurde durch das Einführen der dynamischen Komponente ersetzt. Langjährige Erfahrungen und eine ausreichende Produktreife des Bandscheibenersatzes rechtfertigen heute, sowohl den Patienten als auch den Arzt auf die Ergebnisse aufmerksam zu machen und neue Behandlungsstrategien zu diskutieren. Sinnvoll ist bei der Wirbelsäulenbehandlung heute eine Art Stufenplan. Er sieht für jede einzelne Stufe der Degeneration eine angepasste therapeutische Antwort vor.
Beginnen wir ganz am Anfang der ersten Phase mit dem ernährungsbedingten Schaden an den Knorpelzellen und dem langsam eintretenden Schwund dieser Zellen:
Hier ist die Geometrie des Segmentes noch vollständig erhalten, weil die Matrix noch voll funktionsfähig ist. Die aktuellen Forschungsergebnisse zielen in dieser Phase auf eine Neueinpflanzung der körpereigenen angezüchteten Knorpelzellen, damit sie die Matrix weiterbilden können. Diese Therapiemöglichkeit befindet sich z.Zt. noch in einer Forschungs- und Testphase und ist noch nicht allgemein verfügbar.
Wenn die Degeneration etwas weiter fortgeschritten ist, aber der Nucleus pulposus noch den notwendigen Druck aufbaut, so dass das Bandscheibenfach noch nicht wesentlich in der Geometrie verändert ist, können wir die Stabilität des Faserringapparates erhöhen, indem wir eine Spirale entlang der inneren Schicht des Faserringes im Bandscheibenfach einfädeln und mittels Temperatur das Bindegewebe des Faserringes und der Laminatschicht frühzeitig straffen. Dieses von der Fa. De Puy entwickelte Verfahren wird „Interdiskale Elektrothermale Therapie“ (IDET) genannt. Das Besondere daran ist, dass nicht nur der Faserring gestrafft wird, sondern auch soeine Reduzierung der Schmerznozizeptoren erreicht werden kann: Auch dem interdiskalen Schmerz kann so Rechnung getragen werden.
Ersatz des Gallertkerns ist heute möglich
Die nächste Stufe ist der Verfall der Gewebsanteile im Gallertkern, welcher mit Wasserschwund im Bandscheibenfach und leichtem Absinken der Bandscheibenhöhe einhergeht. Die Wirbelgelenke sind hierbei noch gut erhalten. In dieser Phase ist es möglich, den Gallertkern gegen hydrophiles (Wasser aufnehmendes) Fremdmaterial auszutauschen. Dieser so genannte Gallertkernersatz wird an Stelle des funktionsuntüchtigen Gallertkernes eingebracht. Die Technik wird PDN („Prostetic Disc Nucleus“) genannt, die Voraussetzung ist allerdings, dass die Bänder noch intakt sind und die Gelenkbewegung voll limitieren können. Ein so behandelter Patient kann keinen Bandscheibenvorfall mehr erleiden, weil der Gallertkern entfernt ist. Das Bandscheibenfach wird in der alten Höhe wieder hergestellt, indem sich die Gallertsubstanz mit dem Wasser verbindet und aufbläht. Das Bewegungszentrum rückt hierdurch wieder in die richtige Position. Ein Herausrutschen des künstlichen Gallertkerns ist bei dem mikrochirurgischen, streng seitlichen Zugang nicht bekannt.
Wenn die Degeneration jedoch weiter fortgeschritten ist und in die hypomobile Phase übergegangen ist, so dass bereits wesentliche Veränderungen an der Matrix bzw. am Bandapparat eingetreten sind und arthrotische Veränderungen an den kleinen Wirbelgelenken stattgefunden haben, ist eine PDN nicht mehr möglich. Die Medizin bietet hier einen kompletten Bandscheibenersatz im Sinne einer Bandscheibenprothese. Hierbei muss das gesamte Bandscheibengewebe entfernt werden, heute ebenfalls über einen mikrochirurgischen, ventralen (über Bauchschnitt) Zugang.
Bei Wirbelgleiten muß eine Versteifung erfolgen
Da die limitierende Funktion des Bandapparates in dieser Degenerationsstufe nicht mehr erhalten ist, haben wir uns entschlossen, eine semiflexible Prothese zu wählen, in der das stabile Bewegungszentrum durch die Bau- und Implantationsweise der Prothese gewährleistet wird. Das heißt, dass die natürliche Bewegung im Segment über ein genau festgelegtes Bewegungszentrum erhalten bleibt, welches der Chirurg deckungsgleich mit dem Bewegungszentrum der Wirbelgelenke einbringen muss.
Ist die Degeneration noch weiter fortgeschritten und besteht eine hochgradige Arthrose der Wirbelgelenke, kommt es zu einem Wirbelgleiten. Beim Wirbelgleiten kann man eine Prothese nicht mehr einbauen, dann muss eine Versteifung erfolgen. Aber auch hier gibt es Verbesserungen, die dem Körper erlauben, die Wirbel selbst zueinander optimaler auszurichten, bevor das Segment versteift wird. So bietet z.B. die neueste ABC-Platte von Aesculap eine flexible dynamische Reststabilisation über eine flexible, dynamische Verbindung der Pedikelschrauben beim Fixateur intern.
Auch ist es möglich, einen speziellen Cage über einen 3 cm-Schnitt von dorsal in den Bandscheibenraum einzuführen und ihn mit Spongiosa aufzufüllen. Nur wenn die Kräfte an der ventrodorsalen Ausrichtung, z.B. bei stark übergewichtigen Patienten oder nach Wiederherstellung der Geometrie bei Wirbelgleiten zu groß sind, wird der Wirbelsäule eine bestimmte Geometrie aufgezwungen und steif fixiert. Wir sehen somit, dass die konventionelle Versteifungsoperation von der Indikation her in fünf Teile aufgesplittet wird, davon sind drei beweglich und die letzten zwei steif, wobei sich eine davon noch den körpereigenen Gegebenheiten anpassen kann.
Bis jetzt standen wir der dritten Phase der Degeneration und dem Dominoeffekt der bisherigen Behandlungsstrategien völlig hilflos gegenüber. Durch das Einführen der dynamischen Komponente erhält die Medizin hier zum ersten Mal die Möglichkeit einer ursächlichen Therapie.
Wenn so ein betroffenes Segment in der minderbeweglichen Phase der Degeneration mit einer Bandscheibenprothese behandelt wird, kann der Bewegungsstress auf die benachbarte Etage unterbrochen werden. Dies wird insbesondere dann wichtig, wenn durch oben erwähnte Entwicklungen (Degeneration oder operative Versteifung) mehrere minderbewegte Segmente entstehen. Wenn man in diesen Fällen die Nachbaretagen rechtzeitig mit einem Bandscheibenersatz behandelt, kann das Fortschreiten der Degeneration verhindert werden. So werden die gesunden Abschnitte von den betroffenen Abschnitten mechanisch entkoppelt. Wann und ob oben genannte Therapiemöglichkeiten für welche Etage angewandt werden, kann nur ein Wirbelsäulenspezialist entscheiden, der ausreichend Erfahrung in den konservativen und operativen Vorgehensweisen hat, um das Optimum im Management des chronischen Wirbelsäulenleidens individuell für den Patienten herauszuarbeiten.
In der Regel ist dazu (zusätzlich zu den bildgebenden Verfahren wie Röntgenfunktionsaufnahmen, Computertomographie und Kernspintomographie) auch eine funktionelle Untersuchung der Wirbelsäule notwendig. Diese kann mittels selektiver Facettenausschaltung, funktioneller Discographie oder auch bildgebend gesteuerter ISG-Ausschaltung vorgenommen werden. Auch in der Nachbehandlung verändern diese Therapiemöglichkeiten gänzlich die Vorgehensweise: Schonung wird durch Bewegung ersetzt.
Intensive krankengymnastische Maßnahmen zur Wiederherstellung der Beweglichkeit sind unmittelbar postoperativ notwendig, wobei der Patient sich normal belasten und bereits einige Tage nach dem Eingriff die allgemeinen Verpflichtungen im alltäglichen Leben wieder aufnehmen kann. Lediglich sportliche Aktivitäten müssen für einige Wochen zurückgestellt werden. Nach abgeschlossener Einheilungsphase sind dann meist alle sportlichen Aktivitäten wieder möglich. Allerdings soll eine in vernünftigen Abständen erfolgende krankengymnastische Betreuung dafür sorgen, dass die Beweglichkeit der Wirbelsäule erhalten bleibt und der Patient immer wieder an die Notwendigkeit der Übungen erinnert wird.
aus ORTHOpress 1 | 2002
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