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Leben & Gesundheit

Topinambur: Vergessener Bruder der Kartoffel

eine geschnittene Topinambur

Ein Appetitzügler macht Appetit

Wenn im Osten die Sonne aufgeht, träufeln sich die ersten Functional-Food-Anhänger den „märkisch gesunden“ Topinambur-Sirup auf ihr Müsli oder ihre Cornflakes. Es sei denn, sie haben das Glück, sächsische Cornflakes zu frühstücken. Denn da ist er patentiert schon drin, und das seit 1995. Gewonnen aus den Knollen eines schon fast vergessenen Gemüses, sorgt der Sirup für eine – wenn auch sehr unauffällige – Renaissance der indianischen Knolle.

TOPINAMBUR – MON AMOUR!

Im Supermarkt findet man ihn nicht. Man muss schon mit offenen Augen durch einen gut sortierten Gemüseladen gehen, um ihn dann vielleicht zu entdecken. Im Herbst war Erntezeit. Die frischen Topinamburknollen, leicht rötlich meist, sehen ein bisschen aus wie verwachsene Kartoffeln oder zu groß gewordene Ingwerknollen. Auch hier gibt es – ähnlich wie bei der Kartoffel – verschiedene Sorten mit so schönen Namen wie: Rote Zonenkugel, Gute Gelbe oder einfach nur Bianka, um nur einige zu nennen.
Die Knolle, die wie eine Mischung aus „nussiger“ Kartoffel und Artischocke schmeckt, kommt vermutlich aus den Hochanden. Kanadische Ureinwohner waren wohl die ersten, die in ihren Genuss kamen. Die Einwanderer der Provinz Quebec rettete die Knolle über den Hungerwinter 1612/13. Einige Jahre später, die Indianerknolle war mittlerweile in Europa angekommen, bewahrte sie wieder Menschen vor dem Verhungern: Während des Dreißigjährigen Krieges, der solche Hungersnöte auslöste, dass mancherorts sogar Menschenfleisch gegessen wurde, wurde erkannt, dass Topinambur nicht nur hübsche gelbe Blüten hat, sondern auch essbar ist.

Ein Indianerstamm tanzt Pate

Die Tupi Guarani oder die Tupinambá, Indianer von der Küste Brasiliens, die, nach Europa verschleppt, zum Verdruss des Klerus den französischen Hof mit Schautänzen unterhielten, gaben wahrscheinlich der Knolle ihren Namen. Während sich die Kannibalen die Füße wund tanzten, um den Hofstaat bei Laune zu halten, pflegte dieser zu speisen und herumzualbern. Immer dann, wenn die Knollen serviert wurden, so die Legende, scherzten die Franzosen: Jetzt essen wir die „tupinambur“ … Der Name (neudeutsch: Topinambur), den einige auf dem „a“ und andere auf dem „u“ betonen, hat sich bis heute gehalten.
Wie so viele Gemüse aus der Neuen Welt zierte auch Topinambur erst einmal die Gärten der Reichen. Und wie bei der Kartoffel dauerte es einige Zeit, bis man erkannte, dass sich Topinambur auch als leckeres Gemüse eignet.
In Europa kultiviert wird Topinambur seit Ende des 16. Jahrhunderts – viel früher als die Kartoffel.
Ein englischer Gärtner namens John Goodyer kaufte die Knolle von einem Flamen bereits 1617; er soll der erste gewesen sein, der die Knollen in Großbritannien angebaut hat. Die Briten tauften die Knollen „Jerusalem-Artischocke“. Irgendjemand mit nicht ganz klarer Aussprache muss den Engländern auf italienisch verraten haben, dass es sich bei Topinambur um einen Verwandten der Sonnenblume handelt. Das italienische Wort für Sonnenblume nämlich ist „girasole“. Zumindest für den Engländer war es von girasole ( sprich: Jirasole) zu Jerusalem ein Katzensprung.
Und auch bei uns hat sich die Bezeichnung „Jerusalem-Artischocke“ gehalten, zusätzlich zu vielen anderen Namen: Ewigkeitskartoffel, Indianerknolle, Roßknolle, Kanada-Apfel, Kleine Sonnenblume oder auch etwas nüchterner: Erdbirne oder Erdartischocke.
Topinambur war Grundnahrungsmittel erst in Frankreich, dann in England, Belgien, den Niederlanden und in Deutschland. Mitte des 18. Jahrhunderts endete die kurze Karriere und eine andere begann: Die Kartoffel war endlich auch in Europa akzeptiert und beliebt.

HEALTH FOOD

Ein Vierteljahrtausend sollte vergehen, bis der kleine Bruder der Sonnenblume sein Comeback feiern konnte. Als Light-Gemüse in Brandenburg, Sachsen und auch im Norden Deutschlands kultiviert und vermarktet, profitiert man dort vom sog. Health-Food-Boom der Deutschen. Interessant für den Markt ist der Topinamburextrakt, der aus den frischen Knollen gewonnen wird –, für den Genießer aber der frische Topinambur …
Auch wenn Homöopathen Topinambur gerne als Appetitzügler einsetzen – in experimentierfreudigen Restaurants serviert man die Verwandte der Sonnenblume gerne zum Auftakt eines mehrgängigen Menüs. Und solche Köche schwören: Sein unscheinbares Äußeres täuscht! Der Topinambur ist vielseitig. Man kann so ziemlich alles mit ihm anstellen: Dünsten, braten oder backen, und in dünne Scheiben gehobelt schmeckt er auch roh im Salat und behält seine Vitamine. Topinambur harmoniert wunderbar mit gerösteten Pinienkernen, schmeckt gratiniert oder einfach als Beilage zu Fleisch oder Fisch. Nur kochen sollte man ihn nicht. Das Kochen macht die Knolle fade im Geschmack. Vorsicht ist allerdings bei empfindlichen Mägen geboten. Dann, aber nur dann, sollte Topinambur sogar lange gekocht werden, wobei 10–15 Minuten ausreichen, wenn die Knollen vor dem Kochen in Scheiben geschnitten werden. Zitronensaft im Kochwasser rettet ein bisschen vom Aroma und verhindert außerdem, dass die Knollen sich braun färben. Wer Topinambur richtig zubereitet probiert, hat nicht nur kulinarisch eine Entdeckung gemacht – auch ernährungsphysiologisch bietet die Knolle Außergewöhnliches.

INULIN – Heißhungerblocker

Die frische Topinamburknolle enthält Mineralstoffe, Spurenelemente, Vitamine, Eiweiß und etwa 16% Kohlenhydrate, die Hälfte davon ist Inulin. Glaubt man den Werbekampagnen der Diät-Riegel-Hersteller, ist Inulin in der Lage, den von vielen so gefürchteten Heißhunger zu stoppen und sogar das Sättigungsgefühl zu verlängern. An Stelle von Stärke, wie sie z.B. die Kartoffel speichert, enthält Topinambur diesen Ballaststoff, der fast kalorienfrei satt macht. Inulin, eine Fructosekette, hilft der Knolle, ihre Energiereserven für die Triebe des nächsten Jahres zu speichern. Beim Menschen wirkt das Inulin günstig auf die Darmflora und senkt Cholesterin- und Fettwerte im Blut.
Fructose wird übrigens unabhängig von Insulin (nicht zu verwechseln mit: Inulin) vom Körper verarbeitet. Für Diabetiker bedeutet das Genuss ohne Reue. Der Organismus zuckerkranker Menschen wandelt den Stoff gut in wertvollen Fruchtzucker um. Der Blutzuckerspiegel bleibt unangetastet und muss nicht durch künstliche Insulinzufuhr ausgeglichen werden. Fructose wird auch von nicht zuckerkranken Menschen gut verwertet und unterdrückt Hunger-Fehlalarme. 50% weniger Kalorien als herkömmlicher Zucker hat der aus Inulin entstehende Fruchtzucker und ist damit ein natürliches Light-Produkt.
Die Industrie hat sich dies zu Nutze gemacht, und mittlerweile finden sich in deutschen Reformhäusern Kautabletten, Pülverchen und Diätriegel – alle versehen mit dem Extrakt von Topinambur. Die Topina-Diät-Rohstoff-GmbH hat ein Verfahren patentieren lassen, das die langen Fructoseketten aufspaltet. Je weiter eine Inulinkette in die einzelnen Moleküle aufgespalten wird, umso süßer schmeckt das Konzentrat. Die Süßkraft lässt sich derart steigern, und alle sog. Verzuckerungsstufen von unverzuckert bis vollverzuckert können hergestellt werden. Bei der unverzuckerten Stufe stehen die Ballaststoffwirkung und der geringere Kaloriengehalt im Vordergrund, bei der verzuckerten die Süßkraft.
Was jetzt noch fast ausschließlich in Reformhäusern verkauft wird, soll schon bald zum normalen Sortiment der Supermärkte gehören: Sportlernahrung, -getränke, Zerealien, aber auch typische Supermarktprodukte wie Marmelade, Eiscreme, Suppen und Soßen und besonders Milchprodukte sollen, mit Topinambursirup oder -extrakt zubereitet, den ernährungsbewussten Käufer überzeugen.
Das so genannte Functional-Food hat Verstärkung vom roten Bruder bekommen. Schon vor zwei Jahren präsentierte die Lienig GmbH ihre Produkte auf der „grünen Woche“ in Berlin. Motto des Messestandes: Topinambur – Winnetous Geschenk an Brandenburg. Und auch wenn, wie im Prospekt nachzulesen ist, Winnetou rein gar nichts mit der Knolle zu tun hat, wird die populäre Rothaut bemüht, das vergessene Gemüse wieder in Erinnerung zu rufen.

Rezeptvorschlag:

Salat mit Topinambur und Schikoree
½ Becher Schmand
½ Becher Magerjogurt
Zitronensaft + Salz + Pfeffer : Alles miteinander verrühren

Ca. 200 g Topinambur mit der Gemüsebürste unter fließendem Wasser säubern (Topinambur nie schälen!)
in dünne Scheiben hobeln und sofort mit der Salatsoße vermischen

2–3 Schikoree in dünne Scheiben schneiden und dazugeben (bitteren Keil heraus schneiden!)
1 Apfelsine schälen, zerteilen, in kleine Stücke schneiden und dazugeben

Mit Kresse und Walnüssen garnieren

Topinambur lässt sich schlecht lagern, daher immer sofort verwerten!

von Tanja Zimmermann

Ein Archivbeitrag* aus ORTHOpress 1 | 2000
*Archivbeiträge spiegeln den Stand zur Zeit der Erstveröffentlichung wieder. Die aktuelle Einschätzung des Sachverhalts kann durch Erfahrungszuwachs, allgemeinen Fortschritt und zwischenzeitlich gewonnene Erkenntnisse abweichen.

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