Search
0
Anzeige
Leben & Gesundheit

Kürbis

der Kuerbis

Ein Monster hat Saison

Für manche hat er bis heute sein Schreckensimage behalten. Die Ankündigung: „Heute gibt’s Kürbis!“, ruft bei einigen Menschen ganz bestimmte Reaktionen hervor. Mit aufgerissenen Augen und hektisch abwehrendem Arm-Gefuchtel wird entweder gelogen, man habe überhaupt keinen Hunger, oder diplomatisch gefragt, ob man das nicht auch noch morgen …

Andere geraten ins Schwärmen, ob seines orangefarbenen Fleisches, seines herben Geschmacks und seiner Vielfalt. Und genau die Vielfalt soll – nach dem Kürbisexperten und Gärtnermeister Ulrich Harmuth – der Grund sein für die Kürbis-Renaissance. Sein Sortiment an Kürbissamen ist groß, der Laie kann sich von 250 Sorten(!) verwirren lassen. 

Vorbei die Zeiten des orangeroten Einheitskürbis! Traurige Vergangenheit Zeiten, wo „Hokkaido“ für eine japanische Kampfsportart gehalten wurde. Denn dieser aromatische und hoch carotinoidhaltige Kollege aus Japan muss es mindestens sein, um einen eingefleischten Kürbisfeind zu überzeugen. 

Mehr als 10-mal so viel Carotinoide wie die dafür berühmte Möhre bietet die japanische Variante. Und schmeckt auch besser – weil aromatischer als sein leicht fader Bruder mit dem bürgerlichen Namen „Gelber Zentner“. Die Schale ist bei jungen Exemplaren so weich, dass sie sogar mitgegessen werden kann. Das ist lecker, gesund und zeitsparend.

All das hat sich offensichtlich sehr schnell herumgesprochen, zumindest unter der Spezies des verwöhnten Großstadtgourmets: Der ordert schon lange Herbst für Herbst lässig „Hokkaido“.

Doch so originell ist das alles nicht. Ob Kürbisgratin – zubereitet aus dem in den USA so beliebten „Butternut“-Kürbis (Achtung: Manche schwören auch auf den sehr ähnlich klingenden „Buttercup“!) – oder Steinpilz-Kürbistortellini beim Lieblingsitaliener: Der Neuzeit-Großstadtgourmet kann auf eine lange Kürbis-Geschichte zurückblicken und ganz nebenbei lernen, dass seine Vorlieben so neu und so hip gar nicht sind. 

Versteinerter Kot ist Indiz für die Rekonstruktion einer Menüfolge, die noch aus der Steinzeit stammt. Neben gerösteten Schnecken, Geflügel mit Hirsebeilage und grünem Salat, Ragout von Schlangen und Eidechsen mit Chilipfeffer, servierten mexikanische Indianer schon vor 12.000 Jahren verschiedene Kürbissorten und zum Nachtisch etwas Kaktusfrucht. Natürlich, die Reihenfolge ist leider nicht mehr nachvollziehbar – weitere Fundstücke lassen aber den Schluss zu, dass dieses Menü noch lange nicht alles war, was die Steinzeitköche auf den Tisch brachten. 

Den Hokkaido (auch Carota-Kürbis genannt) brachten spanische Seefahrer Anfang des 16. Jahrhunderts nach Europa. Seitdem wird er in Mitteleuropa angebaut.

Also, der Kürbis ist schon lange entdeckt – und doch löst er bei vielen Menschen alles andere als gute Erinnerungen aus.

Kein Wunder also, dass in unserer deutschen Küche der Kürbis eher stiefmütterlich behandelt wird und sich allenfalls dazu eignet, dem ein oder anderen wahre Graupensuppen-Assoziationen zu bescheren. Nachkriegs-Erinnerungen … Selbst neugierige Spitzenköche resignieren irgendwann – angesichts eines solch unverwüstlichen „Kürbis-süß-sauer-Images“. Argumente wie: „Kürbis ist aber super gesund“, nützen da überhaupt nichts. 

Gesund kann er ja sein, auch ganz wenig Fett enthalten, aber lecker – das ist was anderes.

Und die Tortellini beim Italiener? Na ja, die schmecken – aber ganz bestimmt besser ohne Kürbis. 

Ganz anders gehen die Mexikaner mit dem Calabaza um. Schon der appetitliche Klang: CALABAZA … lässt jeden Mexican-food-restaurant-Gast sorglos Kürbis bestellen. Und eine Vorspeise wie „Gratinierte Crepes mit Kürbisblüten“ stellt doch jeden Krabbencocktail zurück in die Glasvitrine. 

Tortillas mit den essbaren Kürbisblüten gab es auch im Hause der mexikanischen Malerin Frida Kahlo. – Das Originalrezept für dieses Gericht und auch das für „Calabaza en tacha“ (Kürbis in Sirup) finden sich in dem Band „Fridas Fiestas“. Diesen Nachtisch servierte Frida Kahlo zum „Tag der Toten“, einem der ältesten Bräuche des mexikanischen Volkes. 

Drei Tage (vom 1.–3. November) lang werden Freunde und Mitglieder aus der Familie empfangen und mit traditionellen Speisen bewirtet. Im Hause Kahlo gab es – wie in vielen anderen mexikanischen Familien auch – einen Opfertisch. Beladen mit allem Möglichem an Essen und nach alter Sitte dekoriert mit Papierblumen, Kerzen, Totenschädeln aus Zuckerguss und riesigen Kürbissen, erwartet man den Besuch aus dem Jenseits. Lässt der was übrig, sind die Diesseitigen gefragt: Zum Brauch gehört, alles aufzuessen und zum Schluss die Teller abzuwischen. Dazu gab es – zumindest im Hause Kahlo – ein Glas Whiskey, Brandy oder köstlichen, frischen Pulque (vergorenen Agavensaft). Das war zwar nicht unbedingt Brauch, dafür aber beliebt. 

Der Brauch, in den ersten Novembertagen der Toten und der Geister zu gedenken, ist mehr als 2.000 Jahre alt. Aber nicht überall werden sie mit „Kürbis in Sirup“ empfangen. Die Kelten glaubten, die zurückkehrenden Verstorbenen befänden sich auf der Jagd nach einem lebendigen Körper. Dagegen müsse man sich zur Wehr setzen, beschlossen sie und löschten die Lichter in ihren Häusern, damit sie verlassen und ungemütlich wirkten. In der Hoffnung, die Geister zu erschrecken, zogen sie mit Furcht erregenden Masken lärmend durch die Straßen. In Irland, England und den USA ist diese Nacht vor Allerheiligen auch heute noch die Nacht des „Jack-o-lantern“, des ausgehöhlten Kürbismonsters mit dem zackigen Mund. Aus dem „All Hallows Eve“, also dem Abend vor Allerheiligen, wurde Halloween und aus Halloween ein Spektakel, das sich auch bei uns langsam eingruselt. Sogar „Halloweenbesteck“ – kleine Sägen, Bohrer und Löffel (lange Zeit nur in den Halloweenländern zu erstehen) – gibt es mittlerweile auch bei uns zu kaufen. 

Kürbisfeinde behaupten, Kürbis schmecke nur, wenn er nicht nach Kürbis schmeckt. Trotzdem oder gerade deswegen boomt der Kürbis-Kochbuchmarkt. Allein die Gartenbauingenieurin Ulrike Lindner nennt in ihrer Veröffentlichung „Rund um den Kürbis“ 12 Rezeptbücher, die sich intensiv um den Kürbis und seine berühmte Verwandte, die Zucchini (seltener für den Singular: der Zucchino), kümmern. 

Nicht mitgezählt die unzähligen Themen-Kochbücher, die ebenfalls mit Kürbisrezepten aufwarten: Das von James Rizzi illustrierte New-York-Kochbuch bietet Kürbiseis und beim „Letzten Dinner auf der Titanic“ wird laut zugehörigem Kochbuch gefüllter Eierkürbis gegeben. 

Kürbisfeinde sind hartnäckig, aber nicht konsumfeindlich. Das ist der Grund, warum es den „Dekokürbis“ gibt: Das Stück für eine Mark, liegen sie in den Gemüseläden, Feinkostlädchen, Schreibwarengeschäften, Geschenkabteilungen von Kaufhäusern und auf den Wochenmärkten und schreien: Nimm mich mit und dekorier’ zumindest deine Fensterbank, deine Arbeitsplatte oder deinen Kühlschrank mit mir. Und das wird eifrigst erledigt und dann genauso eifrig wieder vergessen – bis dann Monate später das grelle Frühjahrslicht an die herbstliche Dekorier-Wut erinnert: Da liegen sie, die Krummhals-, Pasteten-, Chayoten-, Moschus-, Turban-, Spagetti- und Eichelkürbisse. Übrigens alle essbar und ursprünglich zum Nachreifen aufs Fensterbrett gelegt. Den Kürbisfeind interessiert das nicht, er stellt sich höchstens die Frage, ob die verstaubten und verfetteten Exemplare spülmaschinenfest sind – denn der nächste Herbst kommt bestimmt.

Bevor das neudeutsche Wort „Deko“ die Welt erblickte, sprach man übrigens von Zierkürbissen. Aber das war viel früher, lange bevor Hausfrauen Innenarchitektinnen auf Urlaub waren und kochende Männer unentdeckte Foodstylisten.

Ein Archivbeitrag* aus ORTHOpress 4 | 2000
*Archivbeiträge spiegeln den Stand zur Zeit der Erstveröffentlichung wieder. Die aktuelle Einschätzung des Sachverhalts kann durch Erfahrungszuwachs, allgemeinen Fortschritt und zwischenzeitlich gewonnene Erkenntnisse abweichen.