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Leben & Gesundheit

Apotheken der Welt: USA

Blurred abstract variety of vitamin and supplement products on display at grocery store in Texas, America

Viele Naturvölker kennen zum Kurieren der unterschiedlichsten Krankheiten lediglich Kräuter und Säfte, die Feld, Wald und Wiese hergeben. Wer bei den oft spirituellen Riten mancher Heilungszeremonien jedoch an Humbug denkt und einen wild tanzenden und unverständliche Laute murmelnden, mit Farbe beschmierten Eingeborenen vor seinem geistigen Auge sieht, der ist schief gewickelt. Auch die großen Pharmakonzerne suchen heute das Heil nicht zuletzt in der schier unerschöpflichen Pflanzenvielfalt des (noch) bestehenden Regenwaldes. Diejenigen, die dort wohnen, haben eher wenig davon: Wer im Entwicklungsland wohnt, hat gemeinhin andere Sorgen als Migräne oder Magenübersäuerung.

Ein Großteil der Forschung und Entwicklung befriedigt heute so die Bedürfnisse der westlichen Zivilisation – oder was man dort für ein Bedürfnis zu halten eben geneigt ist. Ob Sildenafil („Viagra“) zur Wiedererlangung sexueller Aktivität, Fluoxetinhydrochlorid („Prozac“) zur Gemütsaufhellung oder Ranitidin („Mylanta“) zur sekundenschnellen Beruhigung des Magens nach überreichlichem Fett- und Alkoholgenuss: Die Kurierung der Krankheiten einer in jeder Hinsicht übersättigten Gesellschaft, welche die von Körper und Geist ausgesandten Warnsignale eher abzuschalten als zu beachten trachtet, ist neben der unablässigen Produktion multimedialer Vergnügungen das vielleicht lukrativste Geschäft unseres Zeitalters.

Wie nicht anders zu erwarten, steht aus diesem Grunde nirgendwo auf der Welt dem Patienten eine so große Zahl an unterschiedlichen Medikamenten zur Verfügung wie in den Vereinigten Staaten von Amerika. Dabei sorgt die Distribution der Arzneien gleichzeitig für Transparenz und Verwirrung: Der überwiegende Teil des gigantischen US-Angebots ist in jedem größeren Supermarkt zu finden. Für den Verbraucher scheint dies zunächst praktisch; Apotheken gibt es nicht in jedem 200-Seelen-Nest – schließlich ist die Besiedelung der ausdehnungsmäßig größten Demokratie der Welt abseits der Ballungszentren eher dünn und die Transportwege sind länger als anderswo.

Ohnehin ist die „Apotheke“, wie wir Europäer sie kennen, längst durch eine zeitgemäßere Variante abgelöst worden. Die von Ketten wie CWS und Walgreen’s bundesweit betriebenen „Pharmacies“ sind in aller Regel riesige Supermärkte, die in straßenbreiten „aisles“ ihre Regale je nach ausgeschilderter Indikation mannshoch nach den klassischen Regeln füllen: Unten billige Generica, in Augenhöhe Premiumware im luxuriösen sechsfarbig bedruckten Blisterpack, an der Kasse bunte Vitamindrops mit Frucht- oder Minzgeschmack.

Undenkbar nach deutschem Verständnis ist dabei die Art, in der die Produkte angepriesen und deren Absatz befördert werden. „Buy Two, Get One Free“, bewirbt ein im Hunderter-Abreißblock vor dem Produkt baumelndes Couponheftchen die wie Schokoladentafeln aufeinander gestapelten Anstaltspackungen des Kopfschmerzmittels „Tylenol“. „Prescription Strength“ lautet die oft und gern benutzte Kurzformel, mit der in Fernseh- und Anzeigenwerbung die Wirksamkeit eines Medikaments unterstrichen werden soll. Zu Deutsch: „So stark, wie wenn es rezeptpflichtig wäre.“ 

„Amerikanische Kollegen wundern sich auf Kongressen oft, dass ich dem Thema «Medikamentenmissbrauch» so vergleichsweise gelassen gegenüberstehe“, erläutert der Kölner Arzt Robert Döhmen. „Ich muss ihnen dann immer wieder erklären, dass viele in den USA frei verkäufliche Arzneimittel bei uns tatsächlich nur auf Rezept zu haben sind. Selbst wenn man vor der unkontrollierten Einnahme von Medikamenten nicht genug warnen kann: Die Größenordnung dieses Problems ist in Amerika einfach eine völlig andere. Ein amerikanischer Arzt, der zu einem Notfall gerufen wird, kann oft nur raten, welche Arzneimittel der Patient in der vergangenen Zeit eingenommen haben mag. In Deutschland reicht im Normalfall ein Telefonat mit dem Hausarzt.“

… Den viele Amerikaner aber gar nicht haben, bliebe zu ergänzen. Bei aller Skepsis gegenüber einem Gesundheitssystem, welches den Supermarktverkauf von hochdosierten Schmerzmitteln, Cortisonpräparaten und Antibiotika erlaubt: Es sollte nicht vergessen werden, dass die Mehrheit der Amerikaner bei gesundheitlichen Problemen gar keine andere Möglichkeit als die der Selbstmedikation hat. Krankenversicherungen mit einem Leistungskatalog nach deutschem Muster werden zwar angeboten, sind aber für einen US-Normalverdiener unerschwinglich. Dies liegt auch und insbesondere daran, dass die Konsultation eines Facharztes erheblich teurer ist als bei uns. Der Arzt verdient in der Regel um ein Vielfaches mehr als sein europäischer Kollege – er muss allerdings im Gegensatz zu ihm auch einkalkulieren, bei missglückten Eingriffen einen Schadenersatz leisten zu müssen, der in Deutschland übliche Entschädigungssummen leicht um das Hundertfache und mehr übersteigt.

So bleibt dem amerikanischen Durchschnittsbürger nichts anderes übrig, als sich bei Kopfschmerzen, Durchfall, Hautkrankheiten und Grippe selbst zu versorgen. Und das tut er, zunehmend sogar Online. In Deutschland bislang verboten, boomt der Internethandel mit Medikamenten in den USA in einem solchen Maße, dass fast alle „Pharmacies“ inzwischen Internet-Filialen eröffnet haben, über die man rund um die Uhr benötigte Tabletten und Salben ordern kann. Innerhalb von 12 Stunden, wenn gewünscht und technisch machbar auch schneller, bringt dann der Bote von UPS, DHL oder Federal Express die Ware ins Haus – bezahlt wird bequem per Kreditkarte. Sollte wirklich einmal ein auch in den USA verschreibungspflichtiges Medikament (wie z.B. die Potenzpille Viagra) dabei sein, so kann der Patient das Rezept im vorgedruckten Freiumschlag an den Anbieter einsenden.

Fachleute schätzen das in diesem Jahr zu erwartende Online-Volumen des Arzneimittelgeschäfts auf rund 60–70 Milliarden Dollar, was bereits etwa einem Drittel des gesamten amerikanischen Pharmamarktes entspräche. Schon heute wickeln Direktservice-Apotheken jährlich über 150 Millionen Rezepte ab (dabei entfallen nur etwa 25% der Arzneimittelverkäufe in den USA auf ver-schreibungspflichtige Präparate).

Wer allerdings darauf spekuliert, von Deutschland aus Verschreibungspflichtiges per Internet aus den USA bestellen zu können, hat sich getäuscht: Obwohl es wie in jeder Branche schwarze Schafe gibt, kennen die meisten Anbieter die internationale Gesetzeslage sehr genau. „Sorry“, beschied man unsere bei CWS per E-Mail gestartete Anfrage, nach Deutschland liefere man nicht. Noch nicht einmal den Tausenderpack des unbedenklichen, aber an deutschen Verhältnissen gemessen unglaublich billigen Vitamin-/Mineralpräparats „From A to Zinc“.

von Arne Wondracek

Ein Archivbeitrag* aus ORTHOpress 3 | 2000
*Archivbeiträge spiegeln den Stand zur Zeit der Erstveröffentlichung wieder. Die aktuelle Einschätzung des Sachverhalts kann durch Erfahrungszuwachs, allgemeinen Fortschritt und zwischenzeitlich gewonnene Erkenntnisse abweichen.

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