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Leben & Gesundheit

Apotheken der Welt: Indien

Indischer Aphoteker

In unserer neuen Serie „Apotheken der Welt“ möchten wir Sie zu einem Streifzug durch die Apotheken verschiedener Kulturen einladen.

Die erste Reise geht nach Indien, einem faszinierenden Land zwischen Tradition und Fortschritt, zwischen unvorstellbarer Armut und Überfluss, einem Land der krassen Gegensätze und unbeschreiblicher Vielfalt: Neben moderner High-Tech-Medizin und Schönheitschirurgie findet man den fahrenden Wunderheiler, der Krankheiten mit Schlangensud und Krötenpulver kuriert, „Zahnärzte“, die ihren Patienten auf der Straße Zähne ziehen und neue Gebisse verpassen, oder auch Müllsammler, die angebrochenen Hustensaft und verfallene Antibiotika auf der Straße verkaufen. Da in Indien Arzneimittel für den Großteil der – oft in bitterer Armut lebenden – Bevölkerung Luxusgüter sind, greifen wohl viele auf letztgenanntes Angebot zurück, in der Hoffnung, dass irgendein Medikament besser hilft als gar keines. Schädliche Wirkungen von Arzneimitteln werden meist nicht bedacht, da sie oft als Wundermittel gelten.

Im Normalfall kauft man jedoch auch in Indien Arzneimittel in Apotheken: Das Erscheinungsbild der Apotheke, die Auswahl des Sortiments sowie die Ausbildung der Apotheker spiegelt die wirtschaftliche Situation des Landes wider. Während bei uns ein übermäßiges, oft unüberschaubares Angebot herrscht, beschränkt man sich in Indien auf das Notwendigste.
Die indische Apotheke ist nur schwer zu finden, da sie sich äußerlich kaum von einer Drogerie oder einem Gewürzladen unterscheidet. Dem Suchenden leuchtet kein rotes Apotheken-A von weitem entgegen. Einziges Erkennungsmerkmal sind die Neonreklamen wohl bekannter, ausländischer Pharmafirmen, die allerdings Produktionsstätten in Indien haben müssen, um dort ihre Produkte verkaufen zu können.
Die klassische Apotheke besteht, wie die meisten traditionellen indischen Geschäfte, aus einem einzigen kleinen dunklen Raum, der durch einen Tresen von der Straße oder einem Vorraum abgetrennt ist. Der Kunde bleibt also immer draußen und hat keine Möglichkeit zur Selbstbedienung. Dort bietet sich dann ein für den europäischen Betrachter ungewohntes Bild: keine akkurat platzierten bunten Arzneimittelpackungen, die dem Käufer ins Auge stechen und zum Kauf anregen sollen, keine Supersonderangebote auf dem Handverkaufstisch, keine weißen Teedosen und keine gläsernen braunen Gefäße mit Rezeptursubstanzen und Chemikalien. In den Regalen und Schränken lagern Tablettenblister in geöffneten Kartons, da Tabletten in Indien einzeln verkauft werden. Dies hat den Vorteil, dass der Patient nur die tatsächlich benötigte Menge kaufen muss. Neben den Medikamenten, die den Hauptteil der angebotenen Artikel ausmachen, tummeln sich auch andere Waren wie Schokolade, Nudeln, Kosmetika, Kondome der Marke „Kamasutra“ oder Insektizide in den übervollen Regalen. Oft findet man auch diverse Limonaden und andere „Cold Drinks“, die dann aus einem Kühlschrank unter dem Tresen hervorgezaubert werden.
Anders als bei uns sind in den Apotheken im Land der Teearzneimittel keine losen Kräuter erhältlich. Hierfür gibt es spezielle Gewürz- und Kräuterläden. Auch ist die Herstellung von Arzneimitteln, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht üblich, weil dazu eine spezielle Lizenz benötigt wird. In Bombay, einer Stadt mit ca. 15 Millionen Einwohnern, lässt sich die Zahl der Apotheken, die Eigenherstellung betreiben, an einer Hand abzählen.
Neben den allopathischen, also schulmedizinischen Medikamenten führt die indische Apotheke auch Arzneimittel, die nach den Vorschriften der altindischen Ayurveda hergestellt sind. Ayurveda ist eine 4000 Jahre alte Heilkunst und bedeutet übersetzt „Wissen vom Leben“. Diese speziellen Arzneien dürfen nur Ärzte und Apotheker, die der obersten Kaste der Brahmanen (Priester) angehören, herstellen und anwenden. Nur sie haben Zugang zu den heiligen Schriften der Hindus, zu denen die Ayurveda gehört. Hier finden sich Vorschriften zur Behandlung von Krankheiten, die Beschreibung von Pflanzen und daraus hergestellte Arzneimittel. Daher ist es nicht selten, dass eine Apotheke die ayurvedischen Mittel zwar vorrätig hat, aber keine Auskünfte über deren Anwendung und Wirkung geben kann.

Bei einer jährlichen Durchschnittstemperatur von ca. 30° C in den meisten Landesteilen und einer oft sehr hohen Luftfeuchtigkeit gestaltet sich die Lagerung der Arzneimittel als sehr schwierig, da die wenigsten Apotheken über eine Klimaanlage verfügen. Die Medikamente sind so einer großen Belastung unterworfen und können vorzeitig verderben. Da es noch keine Vorschriften gibt, die Medikamente regelmäßig zu prüfen, ist es nicht ganz ungefährlich Tabletten zu schlucken, von denen man nicht weiß, wie lange sie bereits in der Apotheke liegen. Für kühl zu lagernde Arzneien gibt es zwar den Kühlschrank, da Stromausfälle aber an der Tagesordnung sind, ist eine durchgehend kühle Lagerung nicht immer gewährleistet. Dann muss der Apotheker entweder den laut knatternden Dieselgenerator anwerfen oder zum elefantenköpfigen Hindu-Gott Ganesh beten. Er ist unter anderem Schutzpatron der Geschäftsleute, Gott des Wohlstandes und der Weisheit. Sein Abbild ist – wie in so vielen indischen Geschäften und öffentlichen Räumen – auf dem winzigen, mit Blumengirlanden und Räucherstäbchen verzierten Hausaltar zu sehen, der sich ebenfalls in dem kleinen Raum befindet.

Auch wird man vergeblich nach freundlich lächelnden, weiß bekittelten, stets kompetent beratenden Apothekerinnen Ausschau halten. Der Apothekerberuf ist in Indien nach wie vor reine Männersache.

Die Ausbildung ist ein Studium an der Universität, dessen Inhalte sich zum Teil beträchtlich von den hier zu Lande gelehrten unterscheiden. Der Inhaber einer Apotheke muss, wie bei uns, Apotheker sein. Bei den anderen Apothekenmitarbeitern ist die Ausbildung nicht eindeutig geregelt. Oft genügt, dass sie lesen und schreiben können. Daher ist es nicht weiter verwunderlich, dass eine Beratung der Patienten über Arzneimittelfragen nur selten in der Apotheke durchgeführt wird. Diese Aufgabe übernimmt dann meistens der Arzt. Selbstmedikation ist auf Grund dieser Situation weit weniger üblich als bei uns.
Ist ein Medikament mal nicht an Lager, kann es beim Großhandel bestellt werden. Allerdings dauert eine Lieferung, die bei uns innerhalb weniger Stunden erfolgen würde, mindestens eine Woche, da die Apotheken in der Stadt normalerweise einmal wöchentlich und auf dem Land sogar nur einmal monatlich mit Ware versorgt werden. Die Arznei wird – in Jutesäcken verpackt – von einem Boten gebracht, der dafür oft einen ganzen Tag mit dem Bus oder zu Fuß unterwegs ist. Da in Indien Zeit eine andere Rolle spielt als in der schnelllebigen westlichen Welt, wird dann eben geduldig gewartet.

Und wenn der Patient nicht gestorben ist, wartet er noch heute …

Ein Archivbeitrag* aus ORTHOpress 1 | 2000
*Archivbeiträge spiegeln den Stand zur Zeit der Erstveröffentlichung wieder. Die aktuelle Einschätzung des Sachverhalts kann durch Erfahrungszuwachs, allgemeinen Fortschritt und zwischenzeitlich gewonnene Erkenntnisse abweichen.