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Rücken

Kryoanalgesie

senior couple embraced at the seaside

Gezielte Vereisung von Schmerzfasern

„Ein Indianer kennt keinen Schmerz“, lautete noch bis in die 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts hinein die Devise. Wer Schmerzen hatte, so die landläufige Meinung, sollte diese ohne Wehklagen ertragen und sich in sein Schicksal fügen. Das sieht man heute gottlob anders: „Wenn Schmerzen chronisch werden, leidet die Lebensqualität. Die Zähne zusammenzubeißen ist daher mit Sicherheit der falsche Weg“, erläutert der pfälzische Schmerztherapeut Dr. Steinleitner.

Besonders Rückenschmerzen werden immer noch von vielen Menschen hingenommen, ohne dass dies so sein müsste – die Patienten sind jedoch durch die Berichte über missglückte Wirbelsäulenoperationen derart sensibilisiert, dass sie oft lieber einen ständig zu verspürenden Schmerz in Kauf nehmen als sich einer Behandlung zu unterziehen. Dabei muss heute in den wenigsten Fällen operiert werden. Dr. Steinleitner: „Es gibt heute eine ganze Reihe von Methoden, mit denen Rückenschmerz minimalinvasiv, d.h. mit geringster Traumatisierung des umliegenden Gewebes, wirksam therapiert werden kann.“

Am Anfang einer Behandlung stehen die Erhebung der Krankengeschichte, vollständige körperliche und serologische Untersuchung sowie die Durchführung bildgebender Verfahren (Röntgen, CT und NMR), um die weitere Behandlung möglichst optimal abstimmen zu können. Sind die Beschwerden nicht bereits durch eine Vorbehandlung zu therapieren versucht worden (z.B. durch physikalische Therapie, Chirotherapie, adäquate Medikation und Krankengymnastik), erfolgt zunächst ein konservativer Behandlungsversuch mit entsprechenden Medikamenten (WHO-Stufenschema I–III). Auch Akupunktur und Magnetfeldtherapie können als begleitende Maßnahmen im Sinne einer nicht-invasiven Therapie eingesetzt werden.

Zeigen diese Maßnahmen keinen Erfolg oder verbieten sie sich auf Grund der Diagnostik, kann möglicherweise eine so genannte minimalinvasive Technik zum Einsatz gelangen.

Eine dieser Methoden ist die Kryoanalgesie, die bei degenerativen Veränderungen der kleinen Wirbelgelenke Anwendung findet. Die Beschwerden dieser Veränderungen können derartig schmerzhaft und langwierig sein, dass sie nicht selten mit Bandscheibenerkrankungen oder Nervenschmerzen, welche in Beine, Gesäß und Bauchraum ausstrahlen, verwechselt werden.

Solche Verschleißerscheinungen liegen z.B. beim sogenannten Facettensyndrom vor. Sie sind meist durch die Höhenminderung des Zwischenwirbelraums als Folge von Bandscheibenschäden oder auch nach einer bereits erfolgten Bandscheibenoperation bedingt. Dabei drängen die Gelenkflächen der Wirbelbogengelenke (Facetten) schmerzhaft ineinander und führen so zur Reizung einzelner Nervenfasern. Im Gegensatz zu einer Reizung der Nervenwurzel handelt es sich hier nicht um einen fortgeleiteten, ausstrahlenden Schmerz, sondern im Allgemeinen um recht gut lokalisierbare, regional auftretende Beschwerden. „Sind dagegen – im Falle ausstrahlender Schmerzen durch Bandscheibenvorfall oder -vorwölbung – mehrere Nervenwurzeln betroffen, dann sollte ein anderes minimalinvasives Verfahren, die epidurale Wirbelsäulenkathetertechnik, zur Anwendung kommen“, erläutert Dr. Steinleitner. Beim Facettensyndrom hingegen hat sich die Behandlung der einzelnen Nervenfaser mittels einer etwa –60 °C kalten Sonde bewährt, welche direkt und ohne Beeinträchtigung anderer Nerven unter Röntgenkontrolle an die schmerzende Stelle herangeführt werden kann. Durch diese kann der schmerzende Nerv buchstäblich „kalt gestellt“ werden, und zwar ohne ihn – wie bei anderen Verfahren – für immer auszuschalten.

„Dieses Verfahren gilt heute als wesentlich schonender als die Nervverödung durch Laserstrahlen oder Strom“, erläutert Dr. Steinleitner. Während es bei der Koagulation einzelner Nervenfasern durch Hitzeeinwirkung im Einzelfall zu schmerzhaften und unkontrollierbaren Nervenaussprossungen kommen kann, besteht diese Möglichkeit bei der Kältesonde nicht. Überdies gilt der Einsatz der Kryoanalgesie als besonders sicher: „Beim Kontakt der Sonde ‘in the region of pain’ verspürt der Patient den Schmerz, den er loswerden will“, beschreibt sein Kollege Dr. Blecher den Vorgang des Herantastens an die zu vereisende Nervenfaser. „Rückmeldungen des Patienten sind während der Behandlung für den Arzt sehr wichtig, denn er will durch die Vereisung ja keine motorischen Ausfälle hervorrufen, sondern lediglich gezielt die Schmerzen lindern.“ Ein wichtiger Aspekt der Kryoanalgesie ist dabei auch, dass sie im Gegensatz zu anderen Verfahren reversibel ist, denn der durch die Unterkühlung lahm gelegte Nerv erholt sich nach einigen Monaten vollständig. Das heißt jedoch nicht, dass die Schmerzen wiederkehren, denn die Vereisung hat auch in vielen Fällen eine positive Wirkung auf das Schmerzgedächtnis. So ist es nicht ungewöhnlich, dass trotz wiederkehrender Empfindung des Nervs die Schmerzfreiheit für eine lange Zeit – nicht selten für immer – anhält. Wenn nicht, so sei dies auch weit weniger ein Problem als bei anderen Behandlungsmethoden, denn die Kryoanalgesie könne bei Bedarf auch Jahre später noch einmal wiederholt werden, betont Dr. Steinleitner.

Anders als nach einer Wirbelsäulenoperation muss keine aufwändige Rehabilitation die Beweglichkeit und Arbeitsfähigkeit des Patienten wiederherstellen; eine Rückenschule, die zu „richtiger“ Haltung anleitet, und die Stärkung der tiefen Rückenmuskulatur sollten jedoch auch hier dafür sorgen, dass die Gefahr eines erneuten Auftretens der Beschwerden minimiert wird.

Aber nicht nur bei Wirbelsäulenschmerzen ist die Kältesonde oft das Mittel der Wahl. Auch Trigeminusneuralgien (Entzündungen und Irritationen des Gesichtsnervs) lassen sich mit dieser Methode oftmals sehr effektiv behandeln – bei vielen Schmerzpatienten wäre ansonsten die gefürchtete operative Durchtrennung des Trigeminusnervs die einzige Alternative.

Ein Archivbeitrag* aus ORTHOpress 4 | 2000

*Archivbeiträge spiegeln den Stand zur Zeit der Erstveröffentlichung wieder. Die aktuelle Einschätzung des Sachverhalts kann durch Erfahrungszuwachs, allgemeinen Fortschritt und zwischenzeitlich gewonnene Erkenntnisse abweichen.