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Behandlungsmethoden

Hin und weg

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Ein Feature über die größte Wohltat der Medizin

Einfach hin und weg? Nein, so einfach ging das viele Jahrhunderte lang nicht! „Du folterst mich, du mordest mich, du tötest mich“, schrien die Patienten den Peinigern der Ärzte-Zunft entgegen. Denn die Narkose, wie wir sie heute kennen, wurde erst vor gut 150 Jahren entdeckt.

„Es wird ganz kalt im Arm. Wie kaltes, flüssiges Blei zieht das Schlafmittel in die Vene und breitet sich wie ein kühler Nebel im Arm aus. Innerhalb von Sekunden erreicht es den Kopf und drückt dir die Augenlider nieder. Es ist wirklich irre, wie eine Narkose das Bewusstsein zum Rücktritt zwingt und wie wenig man sich gegen diese Kapitulation wehren kann.“
Was unseren Musterpatienten Dirk P. im Rückblick auf eine komplizierte Knie-OP so fasziniert, ist eine der folgenreichsten Fortschritte der Medizin. 153 Jahre liegt die Geburtsstunde der Narkose inzwischen zurück, und doch scheint es selbstverständlich zu sein, dass die Chirurgen ihre Klientel in künstliches Koma versetzen, wenn sie zu ihrem Arbeitsplatz – dem Inneren des Menschen – vordringen. Trotzdem: „Was genau bei einer Narkose passiert, welche biochemischen Prozesse ablaufen, ist noch nicht wirklich bekannt“, erklärt Prof. Dr. Günther Cunitz, Direktor der Abteilung Anästhesie und operative Intensivtherapie im Knappschaftskrankenhaus Bochum. „Das Phänomen ist abschließend genauso wenig ergründet wie der Schlaf.“

Ja, und was spritzt denn dann der Anästhesist in die Vene? 
„Wir verabreichen drei Mittel“, sagt der Chefarzt, „erstens ein Schmerzmittel, zweitens ein Muskelrelaxanz – das lässt die Muskelschichten vollkommen erschlaffen und macht es dem Operateur leichter – und drittens das Anästhetikum, das in seiner chemischen Substanz mit Barbituraten, also Schlafmitteln, vergleichbar ist. Das Muskelrelaxanz übrigens“, ergänzt Prof. Cunitz, „wird aus ‘Curare’ gewonnen. Das haben schon die Indianer auf ihre Giftpfeile aufgetragen“.

Vor allem das „Schlafmittel“ hat weit reichende Folgen für den Organismus: Es schaltet nicht nur das Bewusstsein aus, sondern lähmt auch einige Vitalfunktionen. Der Blutdruck fällt ab, ebenso die Herzfrequenz. Die Atmung verlangsamt sich, da die betäubte Atemmuskulatur erschlafft. Jetzt ist der Anästhesist der „Anwalt des Patienten“. Denn eine Vollnarkose ist mehr als nur ein „Filmriss“. „Es wird immer künstlich beatmet“, erklärt der Anästhesist Cunitz. Außerdem werden die Körperfunktionen überwacht.

Wie lange geht so etwas gut?
„Lange“, meint der Facharzt nüchtern. „Man kann einen Patienten bis zu 22 Stunden bewusstlos halten. Er wacht von alleine wieder auf, wenn das Mittel abgebaut ist.“
Dann meint der Professor noch: „Nur Laien gebrauchen heute noch das Wort ‘Narkose’. Denn im Englischen bedeutet Narkose ‘Zustand unter Morphium’. Wir sprechen von Allgemeinanästhesie bzw. Regionalanästhesie, wenn die ‘örtliche Betäubung’ gemeint ist.“
Die Wesensmerkmale der Allgemeinanästhesie sind – so steht es im Lehrbuch: a) die Bewusstlosigkeit, b) die Schmerzfreiheit und c) die Bewegungsarmut (… schließlich ist man ja nicht tot). „Manchmal zuckt ein Patient halt noch“, weiß der Anästhesist. Dass er sich aber regelrecht gegen die „Übermacht in Weiß“ zur Wehr setzt, das war einmal …

Vergleichsweise sanft protestiert die Frau, die da auf dem mittelalterlichen Tisch liegt. Sie hat Brustkrebs. Betäubungsmittel und Wein haben sie ohnmächtig gemacht. Der Rest ist Schnelligkeit. Der „Medicus“, der im Roman von Noah Gordon an der Operation seines Lehrers teilnimmt, lernt früh, worauf es bei der Kunst der Chirurgie ankommt. Gordon schreibt:
„Während al-Juzjani das Messer in das nachgiebige Fleisch drückte und den Schnitt ein Stück unterhalb des Tumors setzte, um alles herauszuholen, quoll Blut hervor. Die Frau stöhnte, und der Chirurg arbeitete rasch, um die Operation zu beenden …“ Sicher geht der erfahrene Chirurg zu Werke – im Wettlauf mit dem Schmerz.
Was sich in dieser Szene nur als leises Stöhnen bemerkbar macht, äußert sich – anderen Quellen zufolge – als lautstarker Protest. Lange vor unserer Zeit, um 2.500 v. Chr., lassen sich zwei ägyptische Patienten auf ihren Grabstein meißeln: „Hör auf und lass mich dahinscheiden und tu mir doch nicht so weh.“ Lieber sterben als für die Gesundheit leiden? Bei den Patienten früherer Jahrhunderte sicher keine seltene Überlegung.

Auch der heilige Chrysostomus – er lebte von 354 bis 407 n.Chr. – konnte ein Lied von Patientenqualen singen: „Diejenigen, die operiert werden, brüllen laut allerlei gegen den Chirurgen, doch jene stören sich nicht daran, sondern sehen nur die Gesundung ihrer Patienten. Oft brüllen sie den Arzt an: Du folterst mich, du mordest mich, du tötest mich. Aber dies sind nicht die Worte einer klaren Überlegung, sondern der Ausdruck unbändigen Schmerzes“, urteilt der Gelehrte und hat damit wohl Recht gehabt.
Zum Ethos der Ärzteschaft gehört es, sich nicht durch solches Gezeter vom medizinischen Auftrag abhalten zu lassen – genauso wenig übrigens wie von plötzlich spritzendem Blut oder stinkendem Eiter. Noch Johann Wolfgang von Goethe widmet sich dem Studium der Medizin in seiner Straßburger Studentenzeit vor allem, um sich – wie er sagt – systematisch abzuhärten. Der Dichter hält fest: „Die Anatomie war mir deshalb doppelt wert, weil sie mich den widerwärtigsten Anblick ertragen lehrte.“
Geradezu vermessen rabiat aber ist die Selbsteinschätzung der Medizin im feudalen 18. Jahrhundert. „Alle narkotischen Mittel sind der menschlichen Natur zuwider“, heißt es in einem Universallexikon von 1732 unter dem Stichwort „Narkotika“, „weil sie die Sinne und Bewegungen hemmen und verwirren. Diejenigen Ärzte, die solche Mittel gebrauchen, schaden mehr als sie nutzen“.
Zwar ist die Anästhesie mit ihren vielfältigen Experimenten so alt wie die Medizin, doch beherrscht der Gedanke vom „gottgegebenen Schmerz“ die Beziehungen von Arzt und Patienten bis ins 19. Jahrhundert – einmal abgesehen von Infektionen und Blutungen, die ebenfalls ein großes Risiko bei Operationen darstellten. Der Gang zum Chirurgen, wörtlich: zum „Handwerker“, konnte verständlicherweise nur die Ultima Ratio sein, solange die Sterberate bei solchen Eingriffen bei 90 Prozent lag.

Für die Patienten war Operation gleichbedeutend mit Folter und Inquisition. Anschaulich schildert das die englische Schriftstellerin Frances Burne d’Arblay. Wieder handelt es sich um eine Brustamputation, die sie selbst durchlitten hat:
„Irgendwann im August des Jahres 1810 begann mich ein leichter Schmerz in meiner Brust zu irritieren, der Woche für Woche zunahm … Zu dieser Zeit erwähnte man Monsieur d’Arblay gegenüber einen hervorragenden Chirurgen, Monsieur Larrey, der eine polnische Verwandte von einem ähnlichen Leiden geheilt hatte … Man hielt eine Konsultation ab, als deren Ergebnis man mich in aller Form zu einer Operation verurteilte. … Ich gab mein Einverständnis, und sie zogen sich zurück, um einen Operationstermin festzusetzen … Unmittelbar danach betrat Dr. Moreau mein Zimmer, um nachzusehen, ob ich noch am Leben sei. Er gab mir einen Weingeist zu trinken … Ich klingelte nach meiner Zofe und den Krankenschwestern, aber noch ehe ich mit ihnen sprechen konnte, betraten ohne Vorankündigung 7 schwarz gekleidete Männer mein Zimmer … Aber ich brachte kein Wort heraus … die einmal getroffene Entscheidung rückgängig zu machen, trotz einer unsagbaren panischen Angst, ungeachtet der marternden Schmerzen. Als dann jedoch der fürchterliche Stahl in meine Brust gejagt wurde – und Venen, Arterien und Fleisch durchschnitt –, bedurfte es keiner Aufforderung mehr, mein Schreien zurückzuhalten. Ich stieß einen Schrei aus, der den gesamten Schnitt andauerte – und ich wundere mich, dass ich ihn nicht noch immer höre! So grässlich war der Todeskampf … Zweimal verlor ich das Bewusstsein; jedenfalls erinnere ich mich zweimal an einen Abgrund, in den ich fiel.“
Die Patientin erlebt die Operation als einen 20-minütigen Todeskampf. Gewöhnlich brachte der Arzt, um solche Brutalität durchzusetzen, gleich stramme Helfer mit, die das „Opfer“ festhalten mussten. Auch Fesseln, Binden oder Stricke kamen natürlich zum Einsatz.

Ein fatales Dilemma: Denn eigentlich soll die Operation den Schmerz ausschalten. Und bis man in Erfahrung brachte, wie das Problem zu lösen sei, musste nicht nur reichlich Wein in Schläuche fließen, sondern immer wieder auch Patienten zur Vorbereitung einer Operation reichlich verabreicht werden.
Mixturen aus Kräutern, Hanf und Opiaten – schwer zu dosieren und in ihrer genauen Wirkung nicht zu kontrollieren – ermöglichten es manchmal dem Chirurgen, ohne das krampfhafte Zittern, das Stöhnen und die Schmerzensschreie des Patienten zu operieren. Hanf (gern als Haschisch verschrien) ist seit langem vielen Kulturen als Schmerzdämpfer bekannt. Die Chinesen nutzen den Rauch brennender Hanfsamen zur „Benebelung“.
Die Assyrer und Ägypter wiederum erreichten bei Beschneidungen ihrer jungen Männer Schmerzlosigkeit schlicht, indem sie ihnen die Halsschlagader abdrückten. Die Jünglinge fielen kurz in Ohnmacht und verpassten so den initiatorischen Eingriff.
Hippokrates, der Patron der Ärzte und Apotheker, berief sich auf Alkohol-Kräuter-Kombinationen. Opium, Alraune, Mandragora oder Kokain sind weitere Mittel, mit denen experimentiert wurde. Und auf den Jahrmärkten des frühen 17. Jahrhunderts wurde erst dann zur Tat geschritten, wenn der Patient der Empfehlung des Quacksalbers gefolgt war, sich „voll zu fressen und voll zu saufen“. Manch einer wird anschließend an seinem eigenen Erbrochenen erstickt sein.
Weise ist da schon fast die Methode des Monsieur Larrey, des Oberwundarztes Napoleons. Er betäubte durch Kälte. Bis zu einer halben Stunde, ehe er das Skalpell ansetzte, machte er Gewebe und Nerven mit einer Mischung aus Salz und Eis unempfindlich. So schaffte er es, die Schmerzleitung in den Nervenbahnen zumindest einzuschränken. 200 Amputationen soll er während des Russlandfeldzugs pro Tag durchgeführt haben.

„Gentlemen, this is no humbug.“ – Mit diesen Worten wird am 16. Oktober 1848 im Boston Massachusetts General Hospital die erste schmerzfreie Operation unter Äthernarkose durchgeführt: Ein Stichtag, der für die Medizingeschichte so bedeutsam ist wie die Entdeckung Amerikas für die Neuzeit. Viele Forscher hatten mit Experimenten diese Entwicklung vorbereitet, doch nur einer konnte den Ruhm davontragen. – Wer’s war? – Noch einen Moment bitte, Sie erfahren‘s gleich …
Nennen wir sie doch einfach Lord Edward und Lady Margaret, die beiden vornehmen, jungen Amerikaner, die wir hier an einem schönen, sonnigen Sonntagnachmittag des Jahres 1848 beobachten. Auf den Rummel will er sie führen, um ihr eine Belustigung der besonderen Art vorzuführen. Nein, kein Schnäpschen soll sie in Stimmung bringen, sondern die „coolste Bühnenshow des Jahres“.
Ein seltsam unförmiger Schlauch mit Dämpfen ist dabei im Spiel. Lachgas oder Äther seien darin, hatte man dem Lord zugeflüstert, der schon viel von diesem Vergnügungs- und Party-Event gehört hat, das er heute selbst erleben will. Natürlich will er dabei auch der Liebsten seinen Mannesmut beweisen.
Mutig tritt er vor und steigt auf die Empore. Der Budenbetreiber hält ihm den Blasebalg, aus dem Dämpfe strömen, unter die Nase. Prompt vernebeln sie ihm Atem und Sinne. Noch ehe er sich versehen hat, torkelt der Lord – beträchtlich gelockert – über die Bühne. Wankend will er sich setzen und schlägt mit voller Wucht mit dem Schienbein gegen den Tisch. Delirierend ringt er um Fasson, und das Publikum gröhlt, während das Blut sein Hosenbein hinabläuft.
Nur merkt der Gute nichts davon, grinst weiter fröhlich vor sich hin. Der Zahnarzt Horace Wells, der zugesehen hat, ist verwundert und hat sogleich einen Geistesblitz. Lachgas, schießt es ihm durch den Kopf, Lachgas verhindert die Schmerzempfindung! Zahlreiche Selbstversuche bestätigen die These. Von einem Kollegen lässt sich Wells sogar selbst in der Betäubung einen Zahn ziehen: Es klappt, es tut nicht weh! – Ebenso wenig leiden 15 andere Patienten bei weiteren Zahnextraktionen im Lachgasrausch.
Die Demonstration der Entdeckung vor dem Chefchirurgen des Massachusetts General Hospital in Boston im Januar 1845 gerät dennoch zur Pleite. Zwar wird der Versuchskandidat schnell benommen und bewusstlos, schreit jedoch laut los, als die Zahnzange zupackt. – Später heißt es, er sei ein erfolgloser, fett- und alkoholsüchtiger Dauerstudent gewesen, der aufgrund dieser Disposition auf das Mittel nicht angeschlagen habe, doch Wells ist frustriert.
Wells, sein Kollege William Thomas Green Morton und ein befreundeter Chemiker machen weitere Versuche – unter anderem auch mit Äther, wobei die narkotischen Dämpfe aus einem Schwamm in einem Behälter inhaliert werden. Morton hat diesen Apparat entwickelt und sieht nun seine große Stunde. Er wagt eine erneute Demonstration vor Fachpublikum.
Wieder ist das Auditorium des Massachusetts General Hospital bis auf den letzten Platz gefüllt. Alles ist präpariert, nur der Hauptdarsteller, der Arzt Morton, fehlt noch. – Da stürmt er herein. In der Nacht, entschuldigt er sich, habe er seinen Narkoseapparat noch einmal deutlich verbessert.
Morton gibt eine kurze Einführung und hält den mit Äther gefüllten Glasbehälter vor Mund und Nase des Patienten. Nach fünf Minuten sackt dieser ohnmächtig zusammen. Chefarzt Warren, der zur Sicherheit ein paar stramme Assistenten mitgebracht hat, operiert das Nackengeschwulst, ohne dass die Gehilfen zupacken müssen. Der Patient rührt sich tatsächlich nicht, er atmet ruhig. Es folgen die historischen Worte: „Gentlemen, this is no humbug.“ Tosender Applaus.

Wurden beispielsweise in den Jahren 1821 bis 1846 am Massachusetts Hospital 333 Operationen durchgeführt – etwa eine pro Monat –, so ändert sich dies nun schlagartig. Chirurgische Eingriffe werden zur Alltagsroutine. Um 1847 setzt im schottischen Edinburgh ein Gynäkologe namens Simpson ein weiteres Mittel, das Chloroform, erfolgreich vor allem bei Geburten ein. Am 7. April entbindet Königin Viktoria ihren vierten Sohn in einer Chloroformnarkose, was die Methode wie ein Lauffeuer verbreitet und in Europa populär macht.
1882 operiert erstmals Carl Wernicke das freigelegte Gehirn und wird damit zum Begründer der Neurochirurgie. Und um die Jahrhundertwende arbeitet Ferdinand Sauerbruch bereits an einer Lösung, wie man beim Öffnen der Brusthöhle den Kollaps der Lunge verhindern kann: 1904 begründet Sauerbruch in der Unterdruckkammer der Breslauer chirurgischen Universitätsklinik die Thoraxchirurgie am Menschen. Trotzdem dauert es noch etliche Jahre, bis sich die Anästhesie als Wissenschaft durchgesetzt hat. Der Facharzt für Anästhesie in Deutschland kann erst ab den 60er-Jahren erworben werden. 1967 wird in Hamburg der erste Lehrstuhl dafür eingerichtet.
Mit einer stabilen Inhalations-Anästhesie tat man sich noch nach dem Zweiten Weltkrieg schwerer, als wir heute denken. Dem Sauerstoff beigemischt wurden dabei etwa Äther, Chloroform, Äthylenchlorid, Divinyläther oder Cyclopropan. Mit diesen Stoffen gab es aber Schwierigkeiten, da die meisten zusammen mit Sauerstoff hoch explosive Gemische bildeten. Entsprechende Berichte über verheerende Erlebnisse in den Operationssälen blieben nicht aus. Auch Organschädigungen gehörten zum Nebenwirkungsspektrum. Durchaus nicht unproblematisch war auch die nötige – extrem hohe – Konzentration der Stoffe. Äthylen zum Beispiel macht erst mit einer Konzentration von 85 bis 95 Prozent bewusstlos. Umso sauerstoffärmer hatte das Inhalationsgemisch zu sein. Wie viele Patienten bei solchen Anästhesien erstickten, man weiß es nicht.
Auch mit Lachgas klappte der Betäubungsvorgang nicht immer zur vollen Zufriedenheit der Anästhesisten und Operateure. Die Lösung: Einfach ein bisschen weniger Sauerstoff ins Gerät … Ein englisches Standard-Lehrbuch, das die Besatzer nach dem letzten Weltkrieg der Uni-Bibliothek in Göttingen vermachten, formuliert wenig zimperlich: „Bei anästhesieresistenten (…) Patienten muss in der Praxis der anästhetische Effekt von Lachgas durch Reduktion des Sauerstoffanteils verstärkt werden (…). In der Tat, der Sauerstoffmangel ist zweifelsfrei ein bedeutsamerer Faktor bei der Erzielung einer Bewusstlosigkeit als irgendeine anästhetische Eigenschaft des Lachgases.“ Die andere drohende Gefahr war noch gefährlicher: Atemstillstand, lichtstarre Pupillen oder schwarzblau angelaufene Haut aufgrund einer Überdosierung.
Der Lübecker Medizinhistoriker K.-F. Klotz beschreibt das Szenario, das sich noch vor 50 Jahren in deutschen Operationssälen abspielte: „Der Patient inhalierte Lachgas ohne Sauerstoffanteil bis zu einer dunkelblauen Färbung der Haut. Dann wurde die Maske vom Gesicht weggerissen, der Anästhesist sprang zur Seite, und der Operateur wurde zu gebotener Eile angehalten. Es blieben jetzt nur 30 bis 40 Sekunden bis zum Ende der Narkose auf die eine oder andere Weise. Ein Riesenerfolg wurde gefeiert, als mit der Einführung der Substanz Äthylen bei vergleichbarer Anwendung eine Verlängerung der Operationszeit auf 80 bis 100 Sekunden eingetreten war.“
Das Wohlbefinden des Bewusstlosen wurde durch Pulstasten und Beobachtung des Gesichtsausdrucks kontrolliert – technisches Equipment und „kluge“ Apparatemedizin gab es noch nicht. Doch die Verbesserung der medizinischen Kenntnisse schritt unaufhaltsam voran.
Heute werden allein in Deutschland jährlich etwa sechs Millionen Operationen unter Vollnarkose durchgeführt, wobei immer noch eine von 100.000 Anästhesien aufgrund menschlichen oder technischen Versagens missglückt und zum Tod führt. Doch wie viele andere Todesarten wurden dabei eingedämmt! Operationen am Herzen, am Gehirn, bei Frühgeborenen, bei Alten, die mittlerweile „Standard“ sind, wären ohne Wells und Mortons bahnbrechende Entdeckung nicht möglich geworden. Und viele Erkrankungen und Verletzungen, die als harmlos gelten, würden uns in pure Verzweiflung stürzen.

Buchtipp:

Illustrierte Geschichte der Anästhesie, hrsg. v. Prof. Dr. Ludwig Brandt/Wuppertal, Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH Stuttgart 1997. 198,- DM

Weitere Quellen:

Klotz, K.-F.: „‘I sufferd so much‘. Die Narkose von Thomas Mann im Jahre 1946 aus heutiger Sicht – Vergleich der anästhesiologischen Methoden“. In: FOCUS MUL 14, Heft 3, 1997, S. 192–199.

Ahnefeld, F.-W.: „Die Geschichte der Anästhesie – 5000 Jahre Kampf gegen den Schmerz“. In: Ulmensien 2, S. 9–40 (Universitätsverlag Ulm 1989).

Ein Archivbeitrag* aus ORTHOpress 1 | 2000
*Archivbeiträge spiegeln den Stand zur Zeit der Erstveröffentlichung wieder. Die aktuelle Einschätzung des Sachverhalts kann durch Erfahrungszuwachs, allgemeinen Fortschritt und zwischenzeitlich gewonnene Erkenntnisse abweichen.