Schrittmacher gegen Blasenentleerungsstörungen
Insgesamt leben in Deutschland ca. 5 Millionen Menschen mit Inkontinenz. Die Kosten allein für die Hilfsmittel belaufen sich auf ca. 1 Milliarde pro Jahr. Ein Drittel aller inkontinenten Patienten hat über diese „Peinlichkeit“ noch nie mit ihrem Arzt gesprochen. Die Tabuisierung der Erkrankung aber verhindert es oftmals, dass geeignete Maßnahmen eingeleitet werden können, die u.U. dazu in der Lage sind, das Problem dauerhaft zu lösen: wie etwa die sog. Sakralnervenstimulation, eine neue Therapieform, mit der einer Reihe von Patienten mit chronischen Blasenentleerungsstörungen geholfen werden könnte.
Bei der Sakralnervenstimulations-Therapie werden schwache elektrische Impulse an einen für die Steuerung des Entleerungsvorgangs zuständigen Sakralnerven im unteren Rückenmarksbereich abgegeben. Funktionsstörungen im unteren Harntrakt nämlich können zum Teil die Folge einer Dysfunktion des Nervensystems sein. Durch die kontinuierliche Elektrostimulation kann derart bei bestimmten – nicht bei allen – Patienten eine teilweise oder vollständige Linderung der Symptome erzielt werden. „Patienten, die unter chronischen Blasenentleerungsstörungen leiden und bei denen konventionelle Behandlungsmethoden keinen Erfolg haben, sind potenzielle Kandidaten für die Anwendung der Sakralnervenstimulation“, erläutert der Berliner Neurochirurg Dr. haj Ahmad die grundlegenden Voraussetzungen für den möglichen Einsatz der Behandlungsform. Bei diesen mit der Sakralnervenstimulation prinzipiell behandelbaren Patienten lägen u.a., einzeln oder parallel auftretend, folgende Funktionsstörungen bzw. Symptome vor: Dranginkontinenz, verschiedene Arten von Entleerungsstörungen, Harndrangsyndrom, chronische Beckenschmerzen. Durch entsprechende Tests und Untersuchungen wird hier im Vorfeld ermittelt, ob bei vorliegender Symptomatik eine normale Nieren- und Harnleiterfunktion und eine ausreichende Blasenkapazität vorliegt und inwieweit andere Behandlungsformen, wie z.B. Ernährungsumstellungen, Verabreichung von Medikamenten oder Biofeedback, ohne entsprechende Wirkung geblieben sind. Auch werden andere mögliche Erkrankungsursachen ausgeschlossen und es wird – vor endgültiger Anwendung der Therapie – ausgetestet, inwieweit der Patient auf eine Stimulation des Sakralnervs anspricht.
Bereits in den 50er-Jahren kam das Interesse an der Behandlung von Blasenentleerungsstörungen mit Hilfe von Elektrizität auf. Bis zur Implantation des ersten Gerätes zur Stimulation der Sakralnerven bei einem Menschen 1981 (durch Dr. Tanagho und Dr. Schmidt) war es allerdings ein weiter Weg. Erst nach vielfältigen Versuchen war man auf die Bedeutung der Sakralnerven für eine normale Reflexkoordinierung zwischen Blase, Sphinkter und Beckenboden und damit für die unbeeinträchtigte Blasenentleerung und Aufrechterhaltung der Kontinenz gestoßen. Seither wurden die chirurgischen Verfahren und die Elektroden nachhaltig verbessert, untermauert durch zahlreiche klinische Studien in Europa, Australien, Kanada und den USA. „Trotz jahrelanger Forschung auf diesem Gebiet, sowohl was Tierversuche als auch was die Humanforschung anbelangt, ist das komplexe, für die Blasenentleerung verantwortliche Neuronensystem nicht vollständig geklärt“, erläutert der Neurochirurge Dr. haj Ahmad und fährt fort: „Vereinfachend kann gesagt werden, dass die Beckensphinkter von den Sakralnerven innerviert sind, welche Reflexbögen zwischen den Zielorganen und den Sakralzentren im Rückenmark bilden. Die Sakralzentren im Rückenmark wiederum sind über Reflexbögen mit den höheren Zentren im zentralen Nervensystem verbunden. Auf Grund der Komplexität dieses neuronalen Zusammenspiels ist das System anfällig. So können selbst kleinste Neuronenläsionen Störungen bei der Blasenentleerung oder Harninkontinenz zur Folge haben.“ Die Sakralnervenstimulation nun kann in diesen Fällen das Neuronenreflexverhalten stabilisieren und Blasenentleerungsstörungen beheben. Allerdings ist der genaue Mechanismus der Sakralnervenstimulation noch unklar.
Während der erwähnten Erprobungsphase wird die Wirkung der Stimulation auf die Symptome des Patienten geprüft. Dazu wird eine sog. temporäre, also nur vorübergehend einzubringende Elektrode an der entsprechenden Stelle am Sakralnerv platziert. Die Stimulationsimpulse werden hier noch von einem extern getragenen Gerät erzeugt. Der Eingriff erfolgt ambulant in örtlicher Betäubung. Erst wenn der Patient gut auf diesen Stimulationstest anspricht, wird ein Eingriff zur dauerhaften Implantation des Systems durchgeführt. Dabei wird unter Vollnarkose die Elektrode, ein dünner Draht mit kleinen Kontaktstellen an der Spitze, der nun im Körper verbleiben wird, in unmittelbarer Nähe des entsprechenden Sakralnervs implantiert, über welchen – wie gesagt – der Entleerungsvorgang gesteuert wird. Unter der Haut wird diese Elektrode zu einem Stimulationsgerät geführt, das dann – vergleichbar einem Herzschrittmacher – in eine durch einen Einschnitt geschaffene sog. „Tasche“ dicht unter der Hautoberfläche eingesetzt wird. In der Regel geschieht dies am Unterbauch, an einer zweckmäßigen, für den Patienten bequemen und auch kosmetisch günstigen Stelle. Das Stimulationsgerät enthält eine Spezialbatterie und elektronische Schaltkreise zur Steuerung der an den Sakralnerv abgegebenen Stimulationsimpulse. Der Arzt kann bei Bedarf zudem die Stimulation von außen regulieren, mit Hilfe eines Programmiergerätes, das über das implantierte Stimulationsgerät gehalten wird.
Dr. haj Ahmad über die zu erwartenden Ergebnisse einer solchen Behandlung, deren Kosten von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden: „Durch die Sakralnervenstimulation kann, eine genaue Indikationsstellung vorausgesetzt, eine Verbesserung der Entleerungsstörung bzw. der Schmerzsymptome erzielt oder es können die Symptome sogar ganz ausgeschaltet werden. Der Grad der erzielten Verbesserung ist jedoch von Patient zu Patient unterschiedlich. In manchen Fällen werden unmittelbar nach der Operation noch keine optimalen Ergebnisse erzielt, nach einer gewissen Zeit, je nachdem nach ein bis sechs Monaten, tritt jedoch eine Verbesserung ein.“ Im Rahmen klinischer Studien konnten die Symptome bei vielen Patienten vollständig beseitigt werden. Bei manchen Patienten wurde eine leichte Verbesserung erzielt und bei einigen wurde nur eine geringe oder keine Wirkung erzielt. Insgesamt also ein ermutigendes Ergebnis …
von Manon Leistner
Ein Archivbeitrag* aus ORTHOpress 3 | 2000
*Archivbeiträge spiegeln den Stand zur Zeit der Erstveröffentlichung wieder. Die aktuelle Einschätzung des Sachverhalts kann durch Erfahrungszuwachs, allgemeinen Fortschritt und zwischenzeitlich gewonnene Erkenntnisse abweichen.