
Inhaltsverzeichnis
- Faszien gleichen Balletttänzern
- Komponente 1: Federn nach dem Katapultprinzip – „Rebound Elasticity“
- Komponente 2: das dynamische Dehnenin langen Ketten – „Fascial Stretch“
- Komponente 3: Die „Eigenbehandlung“ mit der Faszienrolle – „Faszial Release“
- Komponente 4: Körperwahrnehmung in der Tiefe (Propriozeption) – „Sensory Refinement“
Unseren gesamten Körper durchzieht ein Netz kollagener Faszien (Fascia = lateinisch Bund, Bündel). Dabei handelt es sich um bandförmige, feine und reißfeste Häute, welche Muskeln, Knochen und Sehnen verbinden und auch unsere Organe umhüllen. Manche von ihnen sind hauchdünn, andere sind mehrere Millimeter dick. Wenn die Faszien zu wenig oder einseitig belastet werden, besteht die Gefahr, dass sie verkleben oder verfilzen. Dies führt zu Muskelverspannungen, Gelenk- und Rückenschmerzen sowie Einschränkungen der Beweglichkeit. Allerdings kann man diesen Prozessen ganz gezielt entgegenwirken, wie es zum Beispiel mithilfe des Faszientrainings möglich ist.
Die Faszien, welche insgesamt eine Masse von bis zu 23 Kilogramm besitzen, verhelfen unseren Muskeln zu Form, Festigkeit und Elastizität. Ihre Reißfestigkeit ist so groß, dass sie eine Zugkraft von mehr als 60 Kilogramm aushalten. Darüber hinaus verschaffen sie auch den inneren Organen Halt und sorgen dafür, dass sie nicht verrutschen. Andererseits machen sie es aber auch möglich, dass sich Organe, wenn erforderlich, verschieben können. Dies kommt zum Beispiel beim Atmen oder in der Schwangerschaft zum Tragen. Da die Faszien zahlreiche Schmerz- und Bewegungssensoren besitzen, dienen sie auch als Sinnesorgane für die Propriozeption. Zugleich erfüllen sie wichtige Funktionen für unser Immunsystem.
Faszien gleichen Balletttänzern
Das von Robert Schleip geleitete Faszien-Forschungszentrum der Universität Ulm beschäftigt sich bereits seit Jahren mit dem Faszientraining. Für Schleip sind die einzelnen Faszien mit Balletttänzern vergleichbar, die, wenn alles gut läuft, elegant aneinander vorübergleiten. Sobald sie jedoch verkleben, sei dies nicht mehr möglich. Man müsse sich die Sache so vorstellen, als habe man ein verschwitztes Hemd an, das beim Bücken nicht, wie normalerweise üblich, an der Haut entlanggleitet, sondern an ihr haftet. Je länger Faszien in bewegungslosem Zustand verhärten, desto mehr würden sie mit der darunter liegenden Muskulatur verkleben. Solange jedoch dieser Prozess noch nicht abgeschlossen sei, bestehe die Möglichkeit, ihn durch gezielte körperliche Aktivitäten wieder rückgängig zu machen. Unterschieden wird beim Faszientraining zwischen vier Komponenten.
Komponente 1: Federn nach dem Katapultprinzip – „Rebound Elasticity“
Bereits vor einigen Jahren haben Forscher entdeckt, dass Kängurus, deren Sprünge eine Reichweite von immerhin 13 Metern besitzen, nach dem Katapulteffekt arbeiten. Dies geschieht, indem die Tiere die Sehnen und Faszien ihrer Beine vorspannen und die darin gespeicherte Energie anschließend loslassen. Mittlerweile geht man davon aus, dass auch beim Menschen ein erheblicher Teil der Beschleunigungskraft aus der Federung der Faszien entsteht. So konnte durch Versuche mit tragbaren Ultraschallgeräten festgestellt werden, dass die Achillessehne beim Laufen wie eine elastische Feder vorgespannt wird, sodass Energie gespeichert und in effiziente Bewegung umgesetzt wird. Vermutlich kommt der gleiche Effekt auch bei den sehnigen Faszien des Schultergürtels und der Rückenfaszie zum Tragen. Den Katapulteffekt macht man sich beim Faszientraining durch verschiedene federnde Übungen zunutze, zum Beispiel in Form von Hantelschwingen.
Komponente 2: das dynamische Dehnenin langen Ketten – „Fascial Stretch“
Über mehrere Gelenke hinweg werden lange Faszienketten gedehnt. Unterschieden wird dabei zwischen passivem „schmelzendem“ Dehnen mit entspannter Muskulatur und aktiv geladenen Dehnungen, die mit einer Aktivierung der Muskeln einhergehen. Empfohlenermaßen sollte die Dehnungsrichtung immer wieder geändert werden, damit das Fasziennetz in möglichst verschiedene Richtungen stimuliert werden kann. Anders als früher, als man federnde Wippbewegungen beim Dehnen noch für schädlich hielt, hält man diese heute, wenn sie in einem eng begrenzten Radius stattfinden, durchaus für sinnvoll.
Komponente 3: Die „Eigenbehandlung“ mit der Faszienrolle – „Faszial Release“
Die Arbeit mit der Faszienrolle bewirkt eine Selbstmassage, mit deren Hilfe Verklebungen gelöst werden. Dies erklärt man sich damit, dass sich zwischen den Faszien kleine tautropfenartige Gebilde befinden, die aus Hyaluronsäure bestehen und die Funktion eines Gleitmittels erfüllen. Diese sollen durch den Einsatz der Rolle gleichmäßig verteilt werden. Grundsätzlich eignet sich die Methode für alle Körperbereiche. Am besten jedoch lässt sie sich im Schulter-Nacken-Bereich, am oberen und unteren Rücken sowie an Gesäß, Oberschenkel und Waden anwenden. Ein zusätzlicher Effekt soll darin bestehen, dass angestautes Gewebewasser ausgepresst wird. Darüber hinaus führt das Training dazu, dass das Fasziengewebe anschließend deutlich mehr Wasser bindet. Um alle Verzweigungen des Gewebes zu erreichen, wird empfohlen, immer in verschiedene Richtungen zu rollen. Beispielhaft soll hier die folgende Übung angeführt werden:
» Legen Sie sich zunächst auf die linke Seite und stützen Sie sich mit dem linken Unterarm auf. Der Ellenbogen befindet sich nun unter der Schulter.
» Platzieren Sie die Faszienrolle direkt unter Ihrem linken Beckenkamm. Strecken Sie dabei Ihr linkes Bein aus, während Sie Ihr rechtes Bein davorstellen. Stützen Sie sich mit der rechten Hand vor dem Oberkörper ab.
» Rollen Sie die Außenseite des Oberschenkels vorsichtig vom Beckenkamm abwärts in Richtung Knie. Wenn Sie kurz oberhalb des Knies angekommen sind, rollen Sie langsam bis zur Ausgangsposition zurück.
» Anschließend führen Sie die Übung entsprechend auf der rechten Seite aus.
Komponente 4: Körperwahrnehmung in der Tiefe (Propriozeption) – „Sensory Refinement“
Faszienforscher gehen davon aus, dass die Selbstwahrnehmung unseres Körpers schwerpunktmäßig im faszialen Netzwerk angesiedelt ist. Daher betrachten sie die Faszien als „verborgenen sechsten Sinn“. Vor allem in den oberen Faszienschichten befinden sich zahlreiche Sensoren. Je mehr diese Sensorik verfeinert ist, desto geschmeidiger sind unsere Bewegungen. Die Schulung der Eigenwahrnehmung besitzt einen wichtigen Stellenwert für das Faszientraining.
von Klaus Bingler