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Behandlungsmethoden

Schulmedizin – Quo vadis?

Doctor giving a patient a leg treatment

Ambulante Schmerzbehandlung in der Sackgasse?

Die Situation in den orthopädischen Praxen eskaliert, länger werdenden Wartezeiten des Patienten stehen immer kürzere Behandlungszeiten gegenüber. In der heutigen Kassenpraxis ist ein Arzt gezwungen die Behandlungszeit pro Patient auf das Nötigste zu reduzieren; wenn er dies nicht tut, bekommt er betriebswirtschaftliche Probleme.

Unter diesem Kostendruck stehen symptomatische Behandlungsweisen im Vordergrund; für die Patienten bedeutet dies Schmerzunterdrückung bzw. Schmerzausschaltung durch Injektionen, die Einnahme von nebenwirkungsreichen Medikamenten und ggf. lange Krankheitszeiten. Unter rein organisatorischen Gesichtspunkten ist dieser Praxisablauf logisch und unaufhaltsam, das Berufsethos des Arztes und die Bedürftigkeit des Patienten bleiben dabei auf der Strecke!

Für den Patienten entstehen dadurch jedoch erhebliche Nachteile:

• Lange Wartezeiten, weil mehr Patienten als bisher von der Praxis zur Behandlung angenommen werden müssen

• Reduzierung der Behandlung auf das Notwendige, eingeschränkte Gesprächsmöglichkeit, Zurückhaltung des Arztes bei zeitaufwändigen Untersuchungen

• Reine Schmerzbehandlung zur Symptomlinderung ohne ursächliche Abklärung

Die Veränderung dieser Situation muss vom Arzt ausgehen, seine Berufsauffassung, sein Qualitätsanspruch und sein Menschenbild muss die Arzt-Patienten-Beziehung neu prägen.

Arzt-Patienten-Beziehung

In der schulmedizinischen Ausbildung wird der Arzt zu einem hervorragend geschulten Spezialisten; im Falle der Orthopädie wird überwiegend mechanisches Denken geschult. Eine hochgradige Spezialisierung führt zwar zu einem größeren Detailwissen, psychosomatische und ganzheitliche Krankheits- und Behandlungsaspekte werden jedoch nicht erlernt.

Unter dem Zeitdruck des Praxisalltags führt das zu einer Arzt- Patienten-Beziehung, die

• sich dem Praxisablauf unterordnen muss,

• den Patienten nur als „einen Fall von vielen“ sieht,

• eine standardisierte, fachgruppenspezifische Behandlung nach sich zieht,

• den Patienten als „Objekt“ ansieht, das durch den Arzt bzw. dessen medizinische Fähigkeiten geheilt wird.

Im Unterschied dazu verlangt eine ganzheitliche Arzt-Patienten-Beziehung vom Arzt integratives Denken, das Erkennen von Funktionszusammenhängen und eine Mitverantwortung des Patienten im Behandlungsprozess.

Die bedeutet im Bereich der Orthopädie,

• dass der Patient aktiv in die Behandlung einbezogen wird,

• dass eine funktionelle und ursachenbezogene Diagnostik und Behandlung durchgeführt wird,

• dass der Patient als Individuum anerkannt wird,

• dass das individuelle Optimum des Patienten im Mittelpunkt der Behandlung steht.

Schulmedizinischer Behandlungsansatz bei Schulter-Arm-Syndrom

Am Beispiel eines Patienten mit Schmerzen am rechten Schultergelenk und Ausstrahlungen in den rechten Arm lässt sich die Problematik und der Unterschied im Behandlungsansatz zwischen reiner Schulmedizin und funktioneller Orthopädie erläutern.

Wenn ein Patient in der Sprechstunde über Schulter- und Oberarmschmerzen klagt und eine schmerzhafte Bewegungseinschränkung zeigt, so wird üblicherweise ein Röntgenbild des Schultergelenkes und eine Ultraschalluntersuchung durchgeführt.

Je nach Befund und Schmerzsituation wird eine intraartikuläre Injektion, eine entzündungslindernde Salbe oder entzündungshemmende Tablette verordnet. Zusätzlich wird bei stärkerer Bewegungseinschränkung auch noch physikalische Therapie angewandt. Die Vorgehensweise ist rein symptomorientiert, d.h. der Arzt sucht die Ursache von Schmerz- und Bewegungseinschränkung dort, wo der Schmerz vom Patienten empfunden wird. Wenn eine Arthrose oder Entzündung der Schulter vorliegt, kann diese Behandlung eine kurzfristige Linderung bringen.

So lange aber die Ursache für Abnutzung oder Entzündung nicht gefunden und behandelt wird, wird der schmerzhafte Prozess höchstwahrscheinlich nach Abklingen der Medikamente wieder einsetzen. Das wird den Patienten zu einem neuerlichen Arztbesuch veranlassen und es wird die gleiche symptomatische Behandlungsspirale erneut einsetzen. Nur so ist zu erklären, dass sich in orthopädischen Praxen die Mehrzahl der Patienten in regelmäßigen Abständen zu Wiederholungsbehandlungen mit therapieresistenten Beschwerden vorstellen. Hier stößt eine rein schulmedizinisch orientierte Ausbildung des Arztes und eine rein symptomatische Behandlungsweise an ihre Grenzen, und dies ist für den Arzt genauso frustrierend wie für den Patienten. Aus dieser Erfahrung heraus erscheinen fachübergreifende Weiterbildungen zur Erweiterung des Therapiekonzeptes als sinnvoll und auch notwendig.

Funktionelle Orthopädie: Ganzheitliche Diagnostik und Behandlung am Beispiel Schulter-Arm-Syndrom

So gestaltet sich die Durchführung einer ganzheitlichen, funktionellen Untersuchung des Bewegungsapparates und der Wirbelsäule in der orthopädischen Praxis anders. Ein Schulter-Arm-Syndrom ist dabei nur das Schmerzsymptom, die Ursache der Beschwerden muss nicht mit dem Schmerzort übereinstimmen. Diese Vorstellung resultiert aus der neurophysiologischen Organisation des Bewegungsapparates, in dem alle Muskeln von Nerven innerviert werden. Diese treten an bestimmten Wirbelsäulensegmenten aus dem Rückenmark aus. So hat jedes Hautareal und jeder Muskel einen konkreten Bezug zum Nervensystem. Ein Patient mit Schulter-Arm-Syndrom kann dementsprechend eine unentdeckte Nervenreizung oder Gelenksblockierung der HWS zwischen dem 4. und 5. Halswirbel haben. Das Schmerzsyndrom ist dementsprechend nicht an der Schulter, sondern am Hals zu behandeln. Zur weiterführenden Diagnostik finden dann manuelle Techniken der Osteopathie, Kinesiologie und Chirotherapie Anwendung, um auf die Ursache der Fehlfunktion der Halswirbelsäule zu kommen. Entscheidend ist hierbei die Organisation der Gesamtkörperhaltung einschließlich der Muskelreflexe, dreidimensionalen Sehfähigkeit, Propriorezeption der Fußsohlen und der Kiefer­gelenke.

Im konkreten Beispiel heißt das, dass zur Vermeidung des Schulter-Arm-Syndroms die Fehlfunktion der Halswirbelsäule analysiert werden muss. Möglicherweise besteht eine Fehlfunktion der Fußmuskulatur: Diese ruft eine Fehlstellung des Beckens und der Iliosacralgelenke hervor; zum Ausgleich des Beckenschiefstandes wird dann der Kopf- und Halsbereich einseitig verlagert und ruft seinerseits einen ausstrahlenden Schulterschmerz hervor. Die ganzheitliche Behandlung erfolgt über die Integration von Funktionseinheiten von Kopf bis Fuß sowie durch Wiederherstellung der harmonischen Gesamtkörperhaltung.

Orthopädie im Wandel: Der Mensch steht im Mittelpunkt der technischen Innovation

Der orthopädisch tätige Arzt als auch der von einem orthopädischen Leiden betroffene Patient muss nach meiner Auffassung ein Schmerzsymptom in allen seinen Konsequenzen mit der Frage: „Warum entsteht der Schmerz?“, abklären. Diese Untersuchung ist sicher zeitaufwändiger und anspruchsvoller als bisherige Methoden. Sie führt aber langfristig zu einer effektiveren Behandlung und Wiederherstellung der körperlichen Integrität des Patienten. Die Therapieerfolge und die Dauerhaftigkeit der Behandlungseinwirkung lassen sich durch die dreidimensionale Wirbelsäulenvermessung ohne Strahlenbelastung beweisen. Die Normalisierung der Muskelspannung lässt sich sowohl kinesiologisch als auch durch ele­ktro­myografische Untersuchungen bestätigen.

Im Praxisalltag zeigt sich, dass sich auf einer soliden schulmedizinischen Basis technologische Innovationen mit ganzheitlichen Behandlungen sehr gut kombinieren lassen. Dadurch werden Wiederholungsbehandlungen vermieden; das ist vor allem für gesundheitsbewusste und selbstständige Patienten ein großer Vorteil. Auch aus ärztlicher Sicht ist ein geheilter und zufriedener Patient das Zeugnis einer befriedigenden Tätigkeit und darüber hinaus langfristig die beste Weiterempfehlung.

Ein Archivbeitrag* aus ORTHOpress 2 | 2001
*Archivbeiträge spiegeln den Stand zur Zeit der Erstveröffentlichung wieder. Die aktuelle Einschätzung des Sachverhalts kann durch Erfahrungszuwachs, allgemeinen Fortschritt und zwischenzeitlich gewonnene Erkenntnisse abweichen.