Am Morgen geht es auf vier Füßen, am Mittag auf zwei, und am Abend auf dreien. Doch gerade wenn es die meisten benutzt, verfügt es über die geringste Kraft und Schnelligkeit. Welche Kreatur ist das?” Ödipus gelang durch die Lösung dieses Rätsels auf den Thron und erlöste Theben: “Es ist der Mensch, der als Säugling auf allen Vieren krabbelt und als Greis einen Gehstock verwendet.”
Die Definition des Menschen über die Füße ist nicht neu, verlangt jedoch immer wieder neue Beachtung solange wir die Schwerkraft als Haftung auf dem Erdboden zur Verfügung haben. Die Entfernung der Füße vom leuchtenden Kopf und Bewusstsein ist so groß, dass sie ihre Achtung oft erst im Schmerzfall erhalten. “Dabei sind sie die Bedingung für unseren aufrechten Stand und Gang, für Gangrichtung, Sprung und Gleichgewicht. Sie liefern Informationen über den Untergrund und sind Grundlage für die äußere und innere Haltung. Der gegenwärtig kaum barfüßig gehende Mensch will den Schutz für seine Füße in Form von „guten“ Schuhen, Polstersohlen und glatten Böden kaum missen. Die Angst vieler Eltern vor verletzten Kinderfüßen ist größer als die Einsicht in die Notwendigkeit des Barfußgangs”, stellt Dr. Ulrich Piontkowski, Orthopäde aus Bietigheim-Bissingen fest. Sein Kollege Dr. Gregor Pfaff aus München ergänzt: “Unsere empfindlichen Füße entwickeln frühzeitig oft Fehlstellungen und Muskelschwächen infolge ausbleibender Reize. Ausdrücke wie Knick-Senk-Plattfuß oder funktioneller Plattfuß beschreiben dies. Die Folgen- und Reaktionskette ist erheblich und führt Patienten u.a. zum HNO-Spezialisten wegen Schwindel, Ohrgeräuschen und Kopfschmerzen, lässt Kieferorthopäden und Zahnärzte arbeiten wegen Kiefergelenksbeschwerden und Zähneknirschen, lässt einige Kollegen einen Beckenschiefstand mit einseitiger Sohlenerhöhung oder festen Einlagen ausgleichen.”
Die Untersuchung von Ursachen-Folge-Ketten, z.B. mittels osteopathischer und manualtherapeutischer Techniken zeigt oft Symptomzusammenhänge wie schwache Füße, Beinachsenfehler und Knorpelschmerz hinter der Kniescheibe – Innenmeniskusschmerz – Beckenverwringung mit einseitiger Beinverkürzung – Dysbalance in der Brustwirbelsäule mit verstärktem Rundrücken – Ermüdungsschmerz im Nacken – Entstehung eines einseitigen Fehlbisses mit Kopfschmerzen.
Der sogenannte “Muskelsinn” ist der lebensnotwendige sechste Sinn des Körpers, wodurch sich der Körper selbst erkennt. Man kann sagen, dass man seinen Körper, zumindest die beweglichen Glieder, infolge eines konstanten Informationsflusses, der während des gesamten Lebens, unabhängig von den Gelenken, Bändern und Muskeln zum Gehirn strömt, “besitzt”. Dieser Tiefensinn, zum Beispiel unserer Fußsohlen, wird durch spezielle Einlagen wiedererweckt, die durch Aktivierung von definierten Regionen Muskelketten ansprechen. Jede Einlage wirkt auf den Tiefensinn der Fußmuskulatur. Die Frage ist nur, wie? Seit Jahren werden neben stützenden und korrigierenden Einlagen auch sogenannte sensomotorische oder propriozeptive Einlagen angeboten, die nicht die Fußfehlform, sondern die Muskelfunktion der Füße unterstützen! Die Muskelbäuche der Fußsohle bleiben frei, nur Sehnenzüge und Sehnenscheiden werden durch Druckpolster stimuliert. Durch Aktivierung von Streck- und Beugesehnenmuskelketten werden Haltungsprobleme, vermeintliche Beckenschiefstände, beginnende Achsabweichungen im Kniegelenk positiv beeinflusst. Bissstörungen, Kiefergelenksbeschwerden und Migräne können vermindert werden, Schmerzfreiheit oft erreicht werden.
Dr. Pfaff: “Über eine umfassende Statuserhebung einschließlich neurologischer Tests, Gleichgewichtsdiagnostik, Zahn-Kiefer-Diagnostik und Haltungsdiagnostik gewinnen wir Informationen über Ursache-Folge-Ketten. Die orthopädische Diagnostik der Füße und Becken-Darmbeinfugen, der Wirbel- und Kiefergelenke komplettieren die Untersuchung. Die Fußsohlenabdrücke oder Podogramme lassen den physiologischen Abdruck von abgeschwächten Fußformen und hypertonen Fußformen (Hohlfüßen) unterscheiden. Die propriozeptiven Einlagen werden bei beiden Polen der mechanischen Fußbogenverschlechterung angewandt, denn die Muskelbeschaffenheit, der Aufbau der Muskelketten und die Bandverflechtungen der Muskelansätze aktivieren immer alle Muskel- und Sehnenkomponenten. Die kinesiologische Testung von Kernmuskelgruppen erlaubt die Aussage über die Funktion der Regelkreise.”
“Seit einigen Jahren gelingt es, mit der für alle Patienten geeigneten dreidimensionalen Wirbelsäulenvermessung, diagnostische Parameter über die Haltung zu objektivieren”, erklärt Dr. Piontkowski. “Bei dieser strahlenfreien Methode werden neue Informationen über Muskelrelief, Wirbelsäulenverkrümmung und Kreuzbein-Beckenbeckenverhältnis dargestellt. Ein Therapieeffekt kann nach Behandlung mit den Spezialeinlagen nach Frau Prof. FUSCO abgelesen werden. Die Wirbelsäulenaufrichtung wird, je nach Tragedauer der Einlagen und Begleittherapie, im Verlauf der Behandlung als Grafik dokumentiert und den Interessenten mitgegeben.”
Eine mögliche Wirbelsäulenaufrichtung, verbessertes Körpergefühl und ausbleibende Migräne sind der Verdienst unserer Füße selbst und der Spezialeinlagen. Bei Kindern kann durch das Tragen von sensomotorischen Einlagen die Fußstellung und die Körperwahrnehmung verbessert, die Aufmerksamkeitsspanne verlängert werden. Besonders als Begleitung von ergotherapeutischen und logotherapeutischen Sitzungen haben sich sensomotorische bzw. propriozeptive Einlagen als positiv erwiesen.
Durch die fachübergreifende Diagnostik und Therapiekontrollen hat sich die Arbeit mit den Spezialeinlagen als positiver Mittler zwischen den Fachgebieten erwiesen. Workshops und Therapiegespräche zwischen Orthopäden, Kieferorthopäden, Zahnärzten, Kinderärzten, Augen- und HNO-Ärzten sowie Orthopädieschuhtechnikern und Physiotherapeuten sind zur regelmäßigen Einrichtung geworden.
ORTHOpress 4 | 2001
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