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Leben & Gesundheit

Ist Prävention Privatsache?

Family with stethoscope and a red heart. Concepts of a physical examination and health insurance.

Das deutsche Gesundheitswesen kränkelt. Ja, es sieht sogar so aus, als würde es nicht mehr auf die Beine kommen. Denn: Die Beiträge für die Krankenkassen steigen, die dafür gebotenen Leistungen werden immer weniger – ein Dilemma für alle, die sich krankenversichern müssen. Doch der toxikologische Befund führt noch weiter: Der medizinische Fortschritt wird immer teurer, immer besseres Gerät und Medikamente, deren Entwicklung Unsummen verschlingen, lassen die Bevölkerung immer älter werden. Die Folge: Die Kosten im Gesundheitssystem explodieren. Eine bittere Pille für alle Beteiligten. Doch das interessiert unsere Krankheiten und Wehwehchen wenig. Sie wollen auskuriert werden, um jeden Preis. Wer kann das bezahlen?

Die Verunsicherung ist groß: Komplizierte Diskussionen um die Reform des Gesundheitswesens haben bewirkt, dass sich jeder Versicherte fragt, in welchem Lager er besser aufgehoben ist. Gesetzlich oder privat? Welche Versicherung übernimmt die meisten Kosten, wo muss ich am wenigsten aus eigener Tasche beisteuern? In der Entscheidung über den besten Krankenversicherungsschutz taucht neben den Wortungetümen „Erstattungsfähigkeit“ und „Zuzahlungsregeln“ auch das Gespenst der Zwei-Klassen-Medizin auf: Kasse oder Erste-Klasse? Oder bringt die Zukunft gar eine Drei-Klassen-Medizin: Die Erste-Klasse für die Reichen, die hervorragend privat versichert sind, die Zweite-Klasse für die gesetzlich Versicherten, die Zusatzversicherungen abgeschlossen haben, und in der dritten Liga spielen die Bürger, die „nur“ gesetzlich versichert sind in der Wüste der Minimalversorgung. Die Politik will davon nichts hören. Für die Krankenkassenkunden stellt sich die Situation jedoch so dar: Egal bei welchem der beiden Assekuranz-Systeme, gesetzlich oder privat, an der Beitragsschraube wird kräftig gedreht. Gesundheit für Geld heißt der Trend.

Übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen nun Dreidimensionale Wirbelsäulenvermessungen zur Ursachenforschung bei Rückenschmerzen, Laser-Operationen für Kurzsichtige, Knorpelschutztherapien oder die Hepatitis-Impfung? Die Antwort ist kurz und schmerzhaft: Nein. Da muss der Patient in seinen eigenen Geldbeutel greifen. „Voraussetzung für die Übernahme der Behandlungskosten ist, dass das Therapieverfahren hinsichtlich Qualität und Wirksamkeit dem Stand der medizinischen Erkenntnisse entspricht“, heißt es trocken in den Bestimmungen der gesetzlichen Krankenkassen. Ein gemeinsamer Ausschuss von Ärzten und Kassen entscheidet darüber, welche Methoden erstattet werden und welche nicht. Die Beschlüsse sind bindend. Es geht also um Grundleistungen. Aber was ist mit den Zusatzleistungen? Individuelle Gesundheitsleistungen, abgekürzt IGEL-Leistungen, heißen die Leistungen, die Ärzte seit rund drei Jahren ihren gesetzlich versicherten Patienten zusätzlich zur medizinischen Grundversorgung anbieten. Gegen Bares. Doch Selbstzahlerleistungen aus dem IGEL-Katalog sind nichts Neues für Kassenpatienten. Reisemedizin, Sportmedizin, alternative Heilverfahren, Schönheitsoperationen und Lifestylearzneimittel wie Viagra stehen nicht im Leistungskatalog, der für alle der rund 400 gesetzlichen Krankenversicherungen in Deutschland vorgeschrieben ist. Das Leistungspaket dieser Kassen ist nahezu identisch, obwohl die Beiträge unterschiedlich hoch sind. Kürzungen des Staates, der das kränkelnde Gesundheitssystem mit Zuschüssen stützen muss, treffen deshalb vor allem die gesetzlich Versicherten. Im Fall von Beitragserhöhungen können die Versicherten jedoch gegensteuern: Binnen eines Monats darf gekündigt werden, um zu einer günstigeren Kasse abzuwandern. Doch damit ist das Grundproblem, die Finanzkrise der Medizin, nicht gelöst.

Es mutet schon paradox an: Die Krankenkassen machen Defizite in Millionenhöhe. Derweilen zahlen die Versicherten immer höhere Beiträge und so genannte unkonventionelle Untersuchungs-und Behandlungsmethoden, die nicht erstattungsfähig sind, finanzieren sie zudem aus eigener Kraft. Im Juli trat die so genannte Aut-Idem-Regel in Kraft: Ärzte verschreiben lediglich den Wirkstoff, der Apotheker gibt dann das günstigste Präparat ab. Wieder ein Instrument, um Kosten zu sparen. Doch der Teufelskreis, in dem das Gesundheitssystem steckt, dreht sich weiter: Stichwort demographischer Wandel. Immer mehr Menschen werden immer noch älter, und damit auch behandlungsbedürftiger. Der medizinische und technologische Fortschritt geht im Sauseschritt voran, immer neue Behandlungsmethoden und Medikamente strömen auf den Gesundheitsmarkt. Im Gegensatz zu Weiterentwicklungen in der Forschung, die vorrangig auf ein Reduzieren der Kosten abzielen, führt medizinischer Forschritt nur selten zu einer Reduzierung der Versorgungskosten. Ein Fass ohne Boden?

Ein strukturelles Problem
Die Schwerpunkte unserer Medizin liegen auf kurativen Krankheitsbehandlungen, auf der heilenden Medizin. Prävention spielt im deutschen System kaum eine Rolle. Die Bezeichnung Gesundheitswesen führt in die Irre, eigentlich sollte vom Krankheitswesen gesprochen werden. Vorsorge wird nicht belohnt, es existieren keine Anreize. Prävention, Vorsorge und Vorbeugung scheinen für die Krankenkassen unattraktiv zu sein. Nach Berechnungen des Berliner Volkswirtschaftsprofessors Klaus-Dirk Henke schlägt Vorsorge mit nur drei bis sieben Prozent im deutschen Gesundheitswesen zu Buche. Präventive Medizin zahlt sich nämlich nicht kurzfristig aus, sondern erst nach vielen Jahren, ein Zeitraum, der für unsere schnelllebige Zeit in weiter Ferne zu sein scheint. Auch Patienten können mit dem Begriff Prävention wenig anfangen: Denn Risiko tut zunächst nicht weh. Was jedoch in jüngeren Jahren an Gesundheitsvorsorge versäumt wird, muss im Alter teuer mit rein kurativen Maßnahmen bezahlt werden – oft können dann nur noch die Symptome gelindert, nicht die Ursachen bekämpft werden. Vorsorge verlangt aber auch mehr Eigenverantwortung von den Versicherten, nicht nur finanzieller Art. Der Ruf nach dem mündigen Patienten. Das setzt voraus, dass der Schleier über der Medizin gelüftet wird. Zum Beispiel mit einer an die Stiftung Warentest angelehnten Stiftung Medizintest, die Gesundheitsdienstleistungen prüft. Der Patient sollte wissen, welche Klinikärzte erfahren sind im Flicken von Kreuzbändern, er muss erkennen, ob die verschriebenen Arzneien wirklich helfen oder nur die Gewinne von Pharmaindustrie und Ärzten mehren und auch mal Skepsis walten lassen, obwohl er ein medizinischer Laie ist. Kostentransparenz heißt die nächste Spritze, die dem Gesundheitssystem injiziert werden muss. Erst wenn die Kosten einer Behandlung für jedermann offen liegen, kann diese in puncto Nutzen und Alternativen vernünftig beurteilt werden. Und vernünftig scheinen die Deutschen in Bezug auf ihre Gesundheit zu werden. Gestiegenes Gesundheitsbewusstsein und geänderter Lebensstil zeugen davon. Warum soll für den Erhalt der Knochen und des Wohlbefindens nicht auch Geld ausgegeben werden, wenn jedes Jahr ein ganzer Packen an Geldscheinen für den Urlaub am Palmenstrand oder das neue Auto auf den Tisch gelegt werden? Wer gesund sein will, muss künftig auch gewillt sein, in seine Gesundheit zu investieren. Denn Gesundheit ist das höchste Gut sagt ein altes Sprichwort. Der deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer drückt das so aus: „Neun Zehntel unseres Glück beruhen allein auf Gesundheit. Mit ihr wird alles eine Quelle des Genusses.“ Da nützt es wenig, wenn sich Ärzte, Kassen und Politiker gegenseitig die Schuld für die Finanzkrise im Gesundheitswesen zu schieben. Die Diagnose ist klar, nur die richtige Therapie für das angeschlagene Gesundheitswesen lässt auf sich warten. Derweilen müssen wohl die Versicherten ran – und ein Stück Eigenverantwortung übernehmen.

aus ORTHOpress 04/2002

Alle Beiträge dienen lediglich der Information und ersetzen keinesfalls die Inanspruchnahme eines Arztes*in. Falls nicht anders angegeben, spiegeln sie den Stand zur Zeit der Erstveröffentlichung wider. Die aktuelle Einschätzung des Sachverhalts kann durch Erfahrungszuwachs, allgemeinen Fortschritt und zwischenzeitlich gewonnene Erkenntnisse abweichen.