
Viele Patienten leiden unter Schmerzen im unteren Rücken, aber das MRT zeigt keine Ursache. Schuld ist in vielen Fällen die gestörte Ansteuerung der tiefen Rückenmuskulatur – des Musculus multifidus. Was man dagegen tun kann, erfahren wir von Oberarzt Marco Amann, Neurochirurg und Leiter des Bereichs Wirbelsäulenchirurgie am Orthopädischen Krankenhaus Schloss Werneck.
>> Herr Oberarzt Amann, wie beschreiben die Patienten typischerweise ihre Beschwerden?
Viele Patienten berichten über eine lange Leidensgeschichte. Bisher wurde keine Ursache für die Beschwerden gefunden. Schmerzmittel reduzierten nur unzureichend die Symptome und Physiotherapie erzielte keine anhaltende Besserung.
Schmerzen bestehen bei der Verlagerung des Schwerpunkts, z. B. beim Aufstehen aus sitzender Position oder beim Zähneputzen, also immer dann, wenn die „zentrale Mitte“ verlassen wird. Auch längeres Stehen auf einer Stelle ist häufig schon nach kurzer Zeit schmerzhaft.
>> Warum laufen die bisherigen Therapieversuche dann aber ins Leere?
Mehr Aktivität, z. B. im Fitnessstudio, führt zu einer weiteren Überlastung. Schmerzmittel oder Infiltrationen lindern die Symptome nur kurzfristig, die zugrunde liegende Ursache wird hiermit nicht behandelt. Die Spirale dreht sich weiter. Die Aktivität wird aufgrund der Schmerzen immer weiter reduziert und gleichzeitig werden immer mehr Schmerzmittel notwendig, die die Beschwerden jedoch nicht mehr ausreichend verbessern.
>> Was ist die Ursache?
Vereinfacht ausgedrückt führt ein initiales Schmerzereignis zu einer Hemmung der tiefen, rumpfstabilisierenden Muskulatur, dem Musculus multifidus, ähnlich der reflektorischen Hemmung des Oberschenkelmuskels bei einer Knieverletzung. Die Muskeln atrophieren und verfetten. Die gestörte muskuläre Ansteuerung führt zu einer anhaltenden und schmerzhaften Überlastung und damit Abnutzung des unteren Rückens.
>> Ist Physiotherapie hier dann noch hilfreich?
Rechtzeitig diagnostiziert kann spezifisches Training diese Muskeln wieder nutzbar machen, bevor strukturelle Veränderungen in der Muskulatur eintreten. Nach sechs Monaten beginnen jedoch Umbauprozesse im Gehirn, die Muskulatur kann nicht mehr angesteuert werden. Stattdessen nutzt der Körper die großen Muskelgruppen, die die schmerzhaften kleinen Bewegungen der Wirbel gegeneinander nicht verhindern können. Mehr Belastung führt dann unweigerlich zu mehr Schmerzen.
>> Was kann man dann noch tun?
Hierzu muss das Gehirn die nicht mehr angesteuerte Muskulatur wieder zu nutzen lernen. Dies geschieht mit einer elektrischen Stimulation des Musculus multifidus. Restfasern sind nämlich vorhanden, diese gilt es, zu reaktivieren. Hierzu werden in einem minimalinvasiven Eingriff zwei dünne Elektroden neben der Wirbelsäule platziert und mit einem Impulsgeber, der ebenfalls unter der Haut platziert wird, verbunden. Die Patienten aktivieren die Stimulation mit einer Fernbedienung morgens und abends für 30 Minuten. Wahrgenommen werden die Kontraktionen wie ein leichtes, angenehmes Kribbeln.
>> Und wie hilft das, die Schmerzen zu verbessern?
Die Schmerzreduktion erfolgt nicht durch die Stimulation selbst. Das Gehirn bindet die Muskulatur wieder in die Bewegungsabläufe ein und reduziert somit belastungsabhängige Schmerzen. In den ersten sechs Wochen verbessert sich die Stabilität und Aktivität, darauffolgend reduziert sich auch der Schmerz. Dieser wird nicht unterdrückt, sondern durch die aktive Therapie wird die Ursache – die neuromuskuläre Dysfunktion – behandelt. Die zuvor notwendigen Schmerzmedikamente können dann zügig reduziert oder sogar abgesetzt werden.
>> Was sagen die wissenschaftlichen Daten?
Neben Schmerzreduktion, Verbesserung der Lebensqualität und Reduktion der körperlichen Einschränkung mit einer kontinuierlichen und anhaltenden Verbesserung über fünf Jahre zeigt die Therapie auch gegenüber einer bestmöglichen konventionellen Therapie eine deutliche Überlegenheit. Dies bestätigt auch unsere klinische Erfahrung in den vergangenen sechs Jahren.
>> Muss die Therapie dann dauerhaft angewendet werden?
Zu Beginn wird die Stimulation zweimal täglich durchgeführt, zusätzlich regelmäßige Übungen zur Rumpfstabilisierung. Wenn die neuromuskuläre Kon-trolle wiederhergestellt und der Schmerz dauerhaft gebessert ist, kann das System teilweise auch wieder entfernt werden.
>> Ist die Therapie nur für junge Patienten geeignet?
Es geht um die Wiederherstellung der neuromuskulären Kontrolle. Das funktioniert auch bei älteren Patienten. Das ReActiv8-System ist bei Patienten im Alter von 23 – 82 Jahren zur Anwendung gekommen. Die Ergebnisse sind in allen Altersgruppen vergleichbar gut. Entscheidend ist, dass die generelle Abnutzung der Wirbelsäule nicht zu weit fortgeschritten ist.
>> Heißt das, es ist irgendwann zu spät?
Leider ja. Wichtig ist daher, die Ursache der Beschwerden rechtzeitig zu erkennen und zielgerichtet zu therapieren. Zu Beginn steht spezifisches Training mit dem Therapeuten im Vordergrund. Wenn die Beschwerden jedoch schon zu lange bestehen, kann hier oft keine Verbesserung mehr erzielt werden. Dann sollte rechtzeitig das ReActiv8-System zur spezifischen Therapie der neuromuskulären Dysfunktion zum Einsatz kommen.
Oberarzt Marco Amann,
Facharzt für Neurochirurgie,
Leiter des Bereichs Wirbelsäulenchirurgie und interventionelle Schmerztherapie
Orthopädisches Krankenhaus Schloss Werneck
Spezialklinik für Endoprothetik, Orthopädie und Unfallchirurgie
Endoprothetikzentrum der Maximalversorgung
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