Rückenschmerzen und die damit verbundenen Bewegungseinschränkungen kennt jeder, die Ursachen bleiben jedoch oft unerkannt. Die bisherigen Schmerzbehandlungen reichen von der Einnahme nebenwirkungsreicher Medikamente hin zu aufwändigen physikalischen Therapiemaßnahmen oder symptomatischen Schmerzspritzen während der akuten Behandlungsphase. Die große Mehrheit der Rückenpatienten ist jedoch mit der meist nur kurzfristig anhaltenden Besserung der Beschwerden unzufrieden. Orthopress sprach mit den Orthopäden Gregor Pfaff , Steffen Zenta und Christian Jessel, die in ihren Münchner Praxen eine neuartige Diagnostik und Behandlungsweise speziell für Rückenpatienten integriert haben.
Mit welchen Beschwerden kommen Ihre Patienten speziell zu Ihnen?
Die Mehrzahl der Rückenschmerzpatienten haben entweder einen chronischen Dauerschmerz oder, in bestimmten Intervallen, meist belastungsabhängige Schmerzattacken. Diese Patienten sind mit den üblichen Behandlungsmethoden nicht zufrieden, da sich damit keine dauerhafte Linderung ihrer Beschwerden eingestellt hat. Da wir durch eine gesamtheitliche Vermessung der Wirbelsäulen- und Beckenstatik einschließlich der Bestimmung der Beinlängendifferenzen eine neuartige Diagnostik im Bewegungsapparat anwenden, wenden sich diese spezielle Patienten direkt an uns.
Wie sieht dieses neuartige Vermessungsverfahren für Wirbelsäulenpatienten aus?
Bei der dreidimensionalen Vermessung der Körperstatik handelt es sich um ein lichtoptisches Vermessungssystem ohne Röntgenstrahlenbelastung. In der praktischen Durchführung steht der Patient auf einem höhenregulierbaren Podest, der Rücken des Patienten wird mit einem Lichtraster belichtet, dieses Bild wird über eine Videorekordereinheit aufgenommen und mit einem speziellen Computerprogramm berechnet. Die dabei anfallenden Daten beschreiben die Oberflächenverkrümmungen des gesamten Rückens, die exakte Position des 7. Halswirbels, der Dornfortsatzreihe aller Wirbel und der Beckenknochen. Daraus wird dann eine exakte statische Beschreibung des jeweiligen Patienten erarbeitet, hierbei können Fehlrotationen der Wirbelsäule, Seitabweichungen, Lotabweichungen und Beckenschiefstände einschließlich der Beinlängendifferenzen festgestellt werden.
Warum eigentlich gibt es diese Methode, die ja nun eine strahlenfreie Untersuchungsmöglichkeit bietet, erst jetzt in der ambulanten Orthopädie und worin liegen nach Ihrer Meinung als Fachärzte für Orthopädie die größten Vorteile?
Die technischen Voraussetzungen der dreidimensionalen Videorasterstereografie wurden in den letzten 20 Jahren in der Universität Münster entwickelt. Die standardisierte Geräteform existiert seit ca. 5 Jahren auf dem deutschen Markt, die Verbreitung war aber bisher in den niedergelassenen Praxen eher gering. Vor allem in den spezialisierten Skoliosebehandlungszentren bestehen mit dieser Messmethode aber schon sehr lange gute Erfahrungen. Der größte Vorteil der Methode liegt neben der Strahlenfreiheit in der Wiederholbarkeit der Untersuchung; dies ist vor allem unter therapeutischen Aspekten interessant. Zum Beispiel können wir mit der dreidimensionalen Wirbelsäulenvermessung Beinlängendifferenzen genau diagnostizieren und eine einseitige Schuherhöhung millimetergenau simulieren und dementsprechend die Vermessungsergebnisse sofort vergleichen. Auch die Erfolge physikalischer Therapiemaßnahmen, von Chirotherapie und Einlagenbehandlungen können mit dieser Methode überwacht und kontrolliert werden.
Für welche Patienten ist diese Untersuchung denn besonders geeignet?
Die Untersuchungsmethode ist für Patienten geeignet, bei denen trotz ausgiebiger Röntgenuntersuchung, Computertomografie oder sogar Kernspintomografie keine konkrete Schmerzursache gefunden werden kann. Eine Vielzahl der Rückenbeschwerden ist nämlich nicht wirklich im Röntgenbild oder in ähnlichen Untersuchungen sichtbar, vielmehr spielen die Auswirkungen von Fehlstatik, chronischer Muskelverspannung bei kompensierten Fehlhaltungen, nicht erkannte Beckenschiefstände und Rückenverkrümmungen die Hauptrolle beim chronischen Rückenschmerz. Insbesondere profitieren auch Sportler im Leistungs- und Breitensport durch die Erkennung muskulärer Dysbalancen von der Methode. Und speziell für das noch wachsende Skelett gilt der Grundsatz: „Die Funktion bestimmt die Form“.
Wenn ein Patient sich also in Ihren Praxen hinsichtlich des Rückens hat vermessen lassen, wie sieht anschließend Ihre Behandlungsweise aus?
Es handelt sich um ein ganzheitliches Untersuchungs- und Behandlungskonzept. Das setzt zunächst Interesse und Bereitschaft von Seiten des Patienten an einer echten ursächlichen Therapie voraus. Dafür bieten wir Spezialsprechstunden mit einem entsprechenden Zeitrahmen an. Die Analyse der Statik des Patienten umfasst neben der dreidimensionalen Wirbelsäulenvermessung einen differenzierten orthopädischen Ganzkörperstatus, eine Gang- und Standanalyse einschließlich Gleichgewichtstests. Ergänzend und fachübergreifend werden darüber hinaus die Muskelfunktionen der Augen und der Kiefergelenke untersucht und in die Analyse des Bewegungsapparates integriert.
Welche Bedeutung hat in diesem Zusammenhang die Untersuchung der Kiefergelenke?
Denken Sie einfach daran, welch große Kraft Sie mit Ihren Zähnen beim Kauen und Beißen aufbringen können. Falls zwischen den beiden Kiefergelenken eine asymmetrische Gelenkstellung oder durch ungleiche Zahnstellungen eine unterschiedliche Druckbelastung zwischen links und rechts entsteht, kann dies z.B. die Ursache von einseitigem Kopfschmerz, Verspannungen der Hals- und Nackenmuskulatur, Schon- und Fehlhaltungen der Halswirbelsäule und des Schädels sein und damit zu weiteren Folgefehlhaltungen führen. Darüber hinaus beobachten wir bei heranwachsenden Kindern zwischen dem 9. und 14. Lebensjahr Zusammenhänge zwischen kieferorthopädischer Behandlung und Wirbelsäulenverkrümmungen bis hin zur Skoliose! Deshalb ist unsere Diagnostik und Behandlungsweise auch vor allem bei Kindern und Jugendlichen zur Früherkennung und zur Prävention hervorragend geeignet.
Worin besteht genau der Unterschied zur herkömmlichen orthopädischen Untersuchungsweise?
Wir gehen von einer ganzheitlichen Untersuchung der Körperstatik des Patienten aus. Dabei spielen die Füße als Basis unserer Aufrichtung eine sozusagen „tragende Rolle“. Finden sich an den Fußsohlen schwache Muskelspannungen und damit Abflachungen der Fußgewölbe, verbreiterte Mittelfuß- und Vorfußgelenke und Fehlstellungen der Zehen, so ist die Abstützung des gesamten Bewegungsapparates in Stand und Gang fehlerhaft und geschwächt. Die damit verbundene Schwächung der Muskelspannung durchzieht als Muskelkettenreaktion den gesamten Bewegungsapparat bis hin zu den Kiefergelenken. Um die geschwächten Fußzonenareale zu finden, führen wir kinesiologische Muskelfunktionstests an genau definierten Muskelpunkten der Fußsohle durch.
Nach der dreidimensionalen Wirbelsäulenvermessung und der genauen Analyse der Statik des Patienten und der Muskelfunktionstestung des gesamten Bewegungsapparates – welche Behandlungsweise bzw. welches Hilfsmittel haben Sie, um Ihre neuartigen Erkenntnisse therapeutisch umzusetzen?
Als Therapeutikum verwenden wir eine Spezialeinlage nach Frau Prof. Fusco, Italien; dabei werden die als geschwächt identifizierten Fußreflexzonenareale durch eine prallelastische, weiche Füllung stimuliert. Damit wird eine sanfte Aktivierung der körpereigenen Muskelketten ausgelöst, dies führt konsequenterweise zu einer Veränderung und Besserstellung der Beinachsen, des Beckens und der Wirbelsäule bis hin zu den Kiefergelenken. Schlicht gesagt: Die Körperstatik wird wieder ins Lot gebracht.
Seit wann existiert dieser neuartige Diagnose- und Behandlungsansatz und wie sind die Behandlungsergebnisse?
Die Behandlungsweise wurde von Frau Prof. Fusco in den vergangenen 10 Jahren entwickelt, wir haben sie im Rahmen unserer orthopädischen Tätigkeit seit etwa 2 Jahren in unseren Praxen weiterentwickelt und integriert. Vor allem ist durch die dreidimensionale Wirbelsäulenvermessung eine Vergleichbarkeit der Vorbefunde mit den Behandlungsergebnissen gegeben. Erst durch die Bilddokumentation war die Wirksamkeit unserer Spezialeinlagenbehandlung zu objektivieren. Die subjektiven Erfahrungen unserer Patienten beschreiben eine sehr schnell einsetzende Schmerzfreiheit, ein Gefühl der besseren Haltungsaufrichtung in allen Gelenken einschließlich einer größeren Wirbelsäulenstabilität.
Vielen Dank für das Gespräch!
aus OrthoPress 1 | 2000