Alle Medikamente müssen ihre Wirksamkeit an Scheinmedikamenten messen lassen – aber wie genau sind diese Aussagen wirklich?
Mit dem Placeboeffekt ist es ein bisschen wie mit dem alkoholfreien Bier: Wer nicht weiß, dass er welches trinkt, meint manchmal bereits nach zwei Glas, beschwipst zu sein. Genau so funktionieren auch Placebos – Tabletten, die aus nichts anderem als Zucker bestehen, oder Salben, die außer der Salbengrundlage Glyzerin gar keine anderen Stoffe beinhalten, und die dennoch eine Wirkung entfalten. Möglich wird dies durch unsere eigene Einbildungskraft: Solange wir glauben, eine medizinisch wirksame Substanz verabreicht zu bekommen, zeigt unser Körper manchmal ganz ähnliche Reaktionen wie bei der Einnahme eines „echten“ Medikaments.
Nicht auf Medikamente beschränkt
Dabei sind es aber nicht nur Scheinmedikamente, welche eine Placebowirkung auslösen können. Auch eine angebliche Bestrahlung, bei der in Wirklichkeit nur ein Kontrolllämpchen aufleuchtet und sonst gar nichts passiert, kann einen solchen Effekt auslösen. Wie stark dieser Placeboeffekt sein kann, darüber streiten Mediziner aus aller Welt jedoch seit Jahrzehnten. Jüngere Studien zeigen aber, dass er möglicherweise doch viel geringer ist als bislang angenommen – so konnten durch die Gabe von Placebos objektiv vorhandene Krankheitssymptome wie Schnupfen, Husten oder infektiöser Hautausschlag kaum nachweisbar gelindert werden. Am meisten schien auf Placebos das Schmerzempfinden der Patienten anzusprechen, aber auch das nur begrenzt: Die der Vergleichsgruppe verabfolgten echten Medikamente hatten den dreifachen Effekt.
Was gehört alles zum Placeboeffekt?
Offenbar ist der Placeboeffekt (wenn es ihn denn wirklich gibt: Es gibt namhafte Ärzte, die ihn als «statistische Schummelei» vollends ablehnen) gar nicht so einfach zu erklären. Kritiker bemängeln, dass es im Rahmen des bislang üblichen Studienaufbaus gar nicht möglich sei, die Wirkung abzuschätzen und, wichtiger noch, von Begleiteffekten abzugrenzen. So kann die Placebowirkung gleich null sein, wenn das „Medikament“ von einem Arzt verordnet wird, der sich ganz offensichtlich wenig Zeit für seine Patienten nimmt und auch sonst keinen Vertrauen erweckenden Eindruck macht. Ein Mediziner dagegen, der sich um seine Patienten kümmert und sie und ihre Beschwerden ernst nimmt, kann mit einer Placebobehandlung ungeahnte Erfolge erzielen. Dieser Effekt dürfe genau genommen dann aber, so folgern die Gegner der Placebokontrolle messerscharf, nicht dem zu untersuchenden Präparat zugerechnet werden. Ein weiteres Problem scheint zu sein, dass international gültige Regeln vorschreiben, dass alle an einer Studie teilnehmenden Patienten über deren Aufbau beinahe lückenlos informiert sein müssen. Dieses Wissen aber hat seinerseits natürlich einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die erzielbaren Resultate, denn Hauptbestandteil des Placeboeffekts ist nun mal – man kann annehmen, dass wenigstens darüber weitgehende Einigkeit besteht – die Illusion des Behandelten über die Wirksamkeit der Therapie; gerade diese wird jedoch durch zu viel Information möglicherweise nachhaltig gestört. „Das ist doch, als wenn man einem Kind fünf Minuten vor der Bescherung erzählt, dass es den Weihnachtsmann überhaupt nicht gibt und die Geschenke von den Eltern aus dem Versandhauskatalog bestellt werden,“ ärgert sich eine junge Schweizer Ärztin über die aus ihrer Sicht unsinnigen Bestimmungen.
Bereitschaft zur Medikamenteneinnahme hat großen Einfluss
Einen wesentlichen Einfluss auf die Therapie mit echten Medikamenten wie auch mit Placebos hat die so genannte „Compliance“ (Compliance = engl. Nachgiebigkeit, Befolgen). Dieser Ausdruck beschreibt als Gradmesser die Bereitschaft eines Patienten, die vom Arzt verordneten Mittel einzunehmen, aber auch weitere Ratschläge anzunehmen und umzusetzen (z.B. Verzicht auf Alkohol und Nikotin, Ermunterung zu sportlicher Betätigung). In verschiedenen Studien wurde bereits beobachtet, dass eine hohe Compliance zur Einnahme eines Medikaments mit einer geringeren Morbidität und Mortalität verbunden ist, egal ob es sich dabei um eine wirksame Substanz oder um ein Placebo handelt. Medikamente (sowohl wirksame Substanz als auch Placebo) werden nicht selten nur so lange eingenommen, wie sich der Patient dabei gesund und wohl fühlt, und abgesetzt, sobald Befindlichkeitsstörungen auftreten, egal ob diese auf die Einnahme des Medikaments zurückzuführen sind oder nicht. Diese individuell verschiedene Verhaltensweise macht es besonders schwierig, verschiedene Patientengruppen objektiv miteinander zu vergleichen und Aussagen zu Wirksamkeit oder Unwirksamkeit einer Medikation zu treffen. Es kann daher bei placebokontrollierten Studien wie bei allen statistischen Erhebungen nur versucht werden, über eine ausreichend große Anzahl an Probanden die Verfälschung des Ergebnisses durch solche Unwägbarkeiten auf ein Minimum zu reduzieren.
Der Noceboeffekt
Was ist, wenn die Einnahme eines Placebos nicht nur eine positive Wirkung zeigt? Auch dieses Phänomen ist bekannt. Placebos können genau wie echte Medikamente Nebenwirkungen hervorrufen. Diese können sich auf vielfältige Arten und Weisen äußern; besonders häufig ist eine (manchmal vorübergehende) Verschlimmerung der Krankheit. Ein unerwünschter Noceboeffekt kann aber auch durch Compliance-Probleme hervorgerufen werden. Auslöser dafür kann bei besonders sensibilisierten Patienten zum Beispiel die Beschreibung der Nebenwirkungen auf dem Beipackzettel eines Medikaments sein. Hinzu kommt der ebenfalls schwer messbare Anteil an Patienten, die sich aufgrund ihrer psychischen, sozialen oder wirtschaftlichen Gesamtsituation gesellschaftlich und persönlich über ihre Krankheit definieren. Diese werden, obwohl sie jede Art von Medikation und Behandlung dankbar annehmen, niemals eine Verbesserung, sondern immer nur eine schleichende Verschlechterung ihres Zustandes feststellen.
Placebokontrollierte Studien sind kein Ersatz für objektive Langzeitergebnisse!
Besonders in der Therapie lebensbedrohlicher Krankheiten wie Krebs oder Aids wird gerne argumentiert, es sei unverantwortlich, den Betroffenen neuartige Behandlungsmethoden vorzuenthalten, bis gesicherte Ergebnisse zur Wirksamkeit und Sicherheit vorlägen. Es hat sich jedoch in der Vergangenheit mehrfach gezeigt, dass es gefährlich ist, Therapieempfehlungen ausschließlich experimentelle Studien zu Grunde zu legen, welche auf Surrogat-Parameter ausgerichtet sind. Derartige Untersuchungen dienen zur Hypothesenbildung, sie dürfen jedoch kein Ersatz für die nötigen kontrollierten Endpunkt-Interventionsstudien sein. Besonders beeindruckend ist hier das Beispiel der Behandlung mit Beta-Carotin. Die antioxidative Wirkung von Beta-Carotin ist experimentell belegt und wird als wesentlich zur Vermeidung von Erkrankungen angesehen. Trotz einer auf placebokontrollierten Studien beruhenden vermuteten positiven Reaktion der Probanden zeigte sich in den zwei nachfolgenden Interventionsstudien, die bei Hochrisikopersonen durchgeführt wurden, übereinstimmend das Gegenteil von dem, was erwartet wurde: statt einer Abnahme eine Zunahme von Krebs und Gesamtsterblichkeit.
Bereits ein kurzer Blick ins „Netz“ zeigt, dass der Glaube an den Placeboeffekt nicht nur von Arzt zu Arzt höchst unterschiedlich ist: Wesentlich scheint auch zu sein, welcher Disziplin der Mediziner angehört. So heißt es im Medizinerdeutsch süffisant auf einer Internetseite, welche ein wenige Jahre zurückliegendes Expertengespräch zum Thema wiedergibt: „Der Ansatz einer alleinigen Placebowirkung als Begründung für die anerkannten therapeutischen Wirkungen richtete sich von Vertretern der sog. Schulmedizin auf die «Unkonventionellen Verfahren» wie Homöopathie.“ Etwas weniger vornehm und auch für den Laien verständlich heißt es dann weiter unten: „Jeder weiß, was ein Placebo ist – solange er es nicht definieren muss.“
aus ORTHOpress 2 | 2002
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