Natürlich lässt sich das Thema künstliches Ersatzgelenk nicht allein auf die Problematik reduzieren, welche Bewegungsmöglichkeiten bzw. -einschränkungen sich für die Betroffenen nach Einbau einer TEP eröffnen. Gleichwohl handelt es sich dabei um eine alle und alles „bewegende“ Frage. Denn mit dem Versuch, die Prothese in die individuellen Lebensbedingungen zu integrieren, den Alltag mit ihr zu bestehen, sind eine Reihe von sozialen und psychischen Problemstellungen verbunden. Und letztlich ist Lebensqualität ohne Mobilität nicht denkbar.
Der kontinuierliche Anstieg der in Hüfte und Knie allein in der Bundesrepublik eingebauten Kunstgelenke ist zurückzuführen auf einen aktuell sehr hohen biomechanischen und operationstechnischen Wissensstand. Große Fortschritte konnten mittlerweile bei der Entwicklung neuer Materialien, Designs und OP-Techniken erzielt werden. Dies hat zu einer erweiterten Indikationsstellung für den Einbau einer Totalendoprothese auch bei jüngeren und d.h. in der Regel erwerbstätigen Patienten geführt – und damit zu neuen Herausforderungen für die Industrie und Operateure. Im Zusammenhang mit dem gestiegenen Anspruchsdenken nämlich gewinnen heute Fragen nach der Funktion und Belastbarkeit, ja sogar nach der Sportfähigkeit mit Kunstgelenk eine zentrale Bedeutung. Dass diese über die Schmerzfreiheit der Patienten hinausgehende Forderung nach optimierten Bewegungsfunktionen nicht allein technisch einzulösen ist, zeigt bereits die Tatsache, dass nach wie vor jeder zehnte derartige Eingriff etwa am Kniegelenk ein Revisionseingriff ist. Die Zielsetzung, die Funktion mit Kunstgelenk nicht nur wiederzugewinnen, sondern auch auf einem höheren Aktivitätsniveau langfristig zu erhalten, stellt besondere Anforderungen an die postoperative Behandlung. So herrscht Einigkeit darüber, dass erst mit intensiven postoperativen physikalischen Maßnahmen und insbesondere durch gezielte Krankengymnastik die Möglichkeiten der modernen Endoprothetik voll ausgeschöpft würden. Patient und Therapeut gleichermaßen realisieren zunehmend, dass mit dem erfolgreichen operativen Einsatz eines künstlichen Gelenks die Behandlung bei weitem nicht abgeschlossen ist, sondern eigentlich erst richtig beginnt, und dass „Rehabilitation“ hier letztlich ein lebenslanger Prozess ist.
Faktisch aber läuft dem die aktuelle Gesundheitspolitik zuwider. Dass intensive krankengymnastische Nachbehandlung der Grundstein für ein gutes funktionelles Ergebnis ist, darüber sind sich alle Beteiligten einig. Doch im Rahmen gestiegener Implantationen bei gleichzeitiger Kostensenkung – darüber dürfen die hohen Standards der medizinischen Primärversorgung nicht hinwegtäuschen – ist diese Basis und damit die Versorgungs- und Lebensqualität der Endoprothesen-Patienten konkret gefährdet.
Dies sollte aber nicht Anlass zu Resignation geben – im Gegenteil: Viel ist in diesem Bereich in die Verantwortung und Motivation des Patienten selbst gestellt; und dabei ist er nicht allein.
Grundlage für eine mitverantwortliche und durch Eigeninitiative geprägte Wahrnehmung und Ausschöpfung aller zur Verfügung stehenden Angebote ist aber auch eine gesunde Portion Realismus und eine vorurteilsfreie Thematisierung von Tabus. – Es geht wahrlich nicht darum, die Betroffenen als „Behinderte“ zu stigmatisieren, doch ist eine Euphemisierung hier mit Sicherheit nicht angebracht und eher hinderlich. Spektakulären Presseberichten, etwa über den US-amerikanischen Berufsfootballspieler Bo Jackson, der nach Einsatz einer Hüft-TEP wieder als Profi-Baseballspieler aktiv ist, steht nun einmal die für die überwiegende Mehrzahl der Betroffenen gültige Tatsache gegenüber, dass mit dem Einbau eines Kunstgelenks nicht das gesunde Gelenk wiederherzustellen ist, dass notwendigerweise Einschränkungen im Alltagsleben und Beruf sowie hinsichtlich der körperlichen Belastbarkeit bestehen bleiben und dass der Patient mit einem Fremdkörper versehen wurde, der keine unbegrenzte Lebensdauer hat. Wenn dies bewusst gehalten und akzeptiert wird, dann ist die Zielvorstellung einer die Lebensqualität möglichst wenig einschränkenden, erfolgreichen Anpassung der verbleibenden Behinderung an die verschiedenen Erfordernisse von Alltag, Familie und Beruf durchaus realistisch umsetzbar. Und um es nochmals in aller Deutlichkeit zu sagen: Das Kunstgelenk ist ein Verschleißteil, das es – sowohl im Rahmen der gesundheitspolitischen Angebote als auch durch Eigeninitiative – funktionstüchtig zu erhalten gilt.
Den einzelnen Maßnahmen liegt letztlich und entscheidend ein lebenslanger Lernprozess des Betroffenen zu Grunde. Begleitet wird dieser Prozess durch ein sog. „Endoprothesenschulteam“, bestehend aus Operateur, weiterbehandelndem Arzt in der Reha-Klinik oder am Wohnort, Physiotherapeut, Krankengymnast, Sporttherapeut, Sozialarbeiter, Ökotrophologe und Psychologe. In einem Bereich, in dem operative Versorgung und Nachbehandlung aufs Engste verknüpft sind, ist der Team-Gedanke als solcher unerlässlich. Denn nicht nur gilt, dass ein noch so ideales Operationsergebnis ohne Mobilisierung wertlos ist, umgekehrt beeinflussen Prothesendesign und Operationstechnik die postoperativ erreichbare Beweglichkeit und ist der Eingriff zentral für die Belastungsart und das -ausmaß. Hier muss der Informationsfluss zwischen Operateur und Therapeut reibungslos funktionieren, müssen etwa Hinweise auf den Prothesentyp, intraoperative Besonderheiten, die gewünschte Lagerung des Beines und die Belastbarkeit des Implantates gegeben werden.
Was allerdings die jeweiligen Fachmeinungen hinsichtlich Nachbehandlungsrichtlinien und postoperativer Belastung angeht, ist häufig von „babylonischer Verwirrung“ die Rede – und zwar bezogen auf den Zeitpunkt (Sofortbelastung: 2./3. postoperativer Tag, Frühbelastung: ab 3. postoperativer Woche, Spätbelastung: nach mehreren Wochen) und die Art der Belastung (Teilbelastung oder Vollbelastung). Diese Fragen werden insbesondere hinsichtlich der Art der Prothesenverankerung (zementiert versus zementfrei) bzw. der Primärstabilität des Implantates, der Wahl des operativen Zugangs (Ausmaß der Weichteiltraumatisierung) und der Qualität des knöchernen Lagers kontrovers diskutiert. Gegner der Sofort- bzw. Frühbelastung befürchten etwa, dass die knöcherne Einheilung der strukturierten Prothesenoberfläche durch Mikrobewegungen des Implantates verhindert würden. Gegenstimmen behaupten das genaue Gegenteil: dass die Mikrobewegungen die knöcherne Einheilung nicht nur nicht beeinträchtigen, sondern – bei intraoperativ erzielter Primärstabilität – sogar stimulieren würden. Prinzipiell wichtig sei das Erlernen von speziellen Abstütztechniken bis zur Beendigung der Einheilungsphase, wodurch eine Belastungsreduktion von bis zu 70% zu erzielen sei. Doch muss man dabei wissen, dass auch bei aktiv durch den Krankengymnasten unterstützten Bewegungen die Belastung z.B. des Hüftgelenkes bei Flexion bzw. Extension immerhin noch etwa 30% des Körpergewichtes beträgt. (Zum Vergleich: Bei aktiv dynamischen Bewegungen des Beines und Anspannen der Oberschenkelmuskulatur treten Belastungskräfte der Hüfte von bis zu 150% auf, beim Anheben des Beckens in Rückenlage mit beiden Beinen solche vom 2- bis 3-fachen des Körpergewichtes, im Einbeinstand kommt es zur Maximalbelastung von 350%.) Eine vollständige Entlastung jedenfalls ist nicht möglich. Grundsätzlich kann man natürlich sagen, dass eine Sofort- bzw. Frühbelastung immer dann sinnvoll ist, wenn sie die Reha-Phase verkürzt.
Einen Standard, auch was die inhaltliche Füllung der Konzepte angeht, gibt es hier einfach nicht. Dabei muss aber auch bedacht werden, dass die zu berücksichtigenden konkreten Lebensumstände des einzelnen Patienten eine Vereindeutigung gar nicht zulassen. Letztlich muss der Patient also darauf vertrauen, dass er sich persönlich in die „richtigen Hände“ begeben hat.
Im Rahmen je individuell abzustimmender Mobilisierungsmaßnahmen geht es zunächst – vor allem nach langer Krankheitsdauer, nach Schmerzen und damit verbundener Immobilisierung, die in der Regel dem Einbau vorausgehen – darum, die Beweglichkeit, Stabilität und Funktion im Rahmen der jeweiligen Gegebenheiten wiederzuerlangen. Der gezielten krankengymnastischen Übungstherapie, die idealerweise bereits vor der anstehenden Operation einsetzt, kommt in der frühen postoperativen Phase zudem als wirksames Mittel zur Prophylaxe bei Komplikationen (Thrombosen, Embolien und Prothesenluxationen) eine besondere Bedeutung zu. Auch um die Standzeit zu verlängern, haben Maßnahmen, welche die Patienten in Bewegung setzen, ihre konkrete Bedeutung. Schwerpunkte dieser Arbeit sind neben Mobilisation und Stabilisation die Kräftigung durch Muskelaufbautraining, Gang- und Koordinationsschulung, d.h. Schulung der Körperwahrnehmung hinsichtlich Haltung und Bewegung, die Anregung des Knochenstoffwechsels durch Bewegung und leichte Belastung sowie der Abbau von Übergewicht, aber auch das Training funktioneller, ergonomischer Bewegungsabläufe. Die späte, d.h. nachstationäre postoperative Rehabilitationsphase umfasst vor allem Verhaltensschulung, Anpassung an Alltagsbelastungen, Herz-Kreislauf-Training sowie sporttherapeutische Ansätze, die nicht mit „normaler“ Sportausübung zu verwechseln sind.
Bereits in der frühen postoperativen Phase, der Nachbehandlung im Krankenhaus, wird auf Eigentraining Wert gelegt. Die operierende Klinik stattet den Endoprothesen-Träger mit einem individuellen Nachbehandlungsprogramm aus, ggf. auch mit Hinweisen auf Ausstattung und Handhabung entsprechender Hilfsmittel, wie Gehhilfen, geeignete Sport- und Schuhbekleidung. Ziel auch der anschließenden Reha-Maßnahmen ist die Anleitung zum Übergang in die häusliche Selbstständigkeit, eingeschlossen die konkrete Unterweisung in das häusliche Übungsprogramm. Bei Bewegungseinschränkungen und anderen Zwischenfällen allerdings muss der Physiotherapeut unverzüglich informiert werden.
So individuell die persönlichen Voraussetzungen sind, so unterschiedlich ist natürlich auch die Bedeutung, welche der Bewegung generell im Rahmen der Lebensqualität beigemessen wird. Für sportlich ambitionierte Endoprothesen-Träger besteht über die regelmäßige, selbstständige Ausführung der spezifischen Übungen hinaus die Möglichkeit, sich einer Endoprothesen-Sportgruppe anzuschließen, die mit Elementen der Krankengymnastik und Sporttherapie arbeitet.
Ein Archivbeitrag* aus ORTHOpress 2 | 2001
*Archivbeiträge spiegeln den Stand zur Zeit der Erstveröffentlichung wieder. Die aktuelle Einschätzung des Sachverhalts kann durch Erfahrungszuwachs, allgemeinen Fortschritt und zwischenzeitlich gewonnene Erkenntnisse abweichen.