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Krankheitsbilder

„Ungebetene Gäste“: Nebenwirkungen

A mature woman taking medication

„Diese Fantomschmerzen waren furchtbar“, erzählt Rudolf Kirschner. Der 72-jährige muss jede Woche dreimal ins Krankenhaus: Dort verbringt er jeweils vier Stunden auf der Dialyse-Station, um sein Blut reinigen zu lassen. Seine Nieren haben versagt – der Rentner hatte sechs Jahre lang ständig zu Schmerzmitteln gegriffen: Das linke Bein tat höllisch weh, obwohl es doch amputiert war. „Drei, vier Jahre nach der Amputation setzten die Fantomschmerzen ein“, erinnert sich Rudolf Kirschner. „Ich konnte da nicht gegen an, man kann sich noch so viel Mühe geben, da hilft auch kein Zureden mehr. Meine Frau hat oft gesagt, ‘Vati, nimm nicht so viele Tabletten’ – aber ich musste sie nehmen, es wurde immer schlimmer.“

Auf die Dauer gehen fast alle Schmerzmittel an die Nieren – auch die rezeptfreien. Besonders gefährlich sind so genannte Kombinationspräparate, also Tabletten, die gleichzeitig zwei oder mehr Wirkstoffe enthalten, z.B. die bekannten Substanzen Acetylsalicylsäure und Paracetamol. Deren Mischung erhöht nicht die Wirksamkeit, verdoppelt aber das Risiko: Paracetamol greift die Nieren an, Acetylsalicylsäure schlägt auf den Magen. Jeder zehnte Dialyse-Patient hat seine Nieren durch Schmerzmittel ruiniert. Eine unheilbare Schädigung kann schon eintreten, wenn über Jahre hinweg insgesamt ein Kilogramm kombinierter Wirkstoffe geschluckt wurde – das entspricht etwa 100 Packungen.

Aber auch Monopräparate sind nicht harmlos. Selbst für das beliebte Paracetamol gilt der Satz des Paracelsus: „Die Dosis macht das Gift.“ Viele Menschen halten das gerade bei Kindern millionenfach verordnete fiebersenkende Schmerzmittel für gänzlich risikofrei. Aber das „therapeutische Fenster“ von Paracetamol ist sehr klein: Bei richtiger Dosierung hilft es problemlos – bei falscher Dosis kann es tödlich sein. Weil eine Überdosierung zum akuten Leberversagen führen kann, dürfen in Großbritannien seit anderthalb Jahren nur noch Packungsgrößen von maximal 16 Tabletten verkauft werden. Die britische Regierung sah sich zu dieser Verordnung gezwungen, weil es jährlich zu rund 40.000 Paracetamol-Vergiftungen gekommen war.

Andere Mittel, andere Tücken: Die bei orthopädischen Leiden wie Schulter- und Rückenschmerzen, Rheuma und Arthrose häufig angewendeten Nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR) verursachen bei vielen Patienten Magengeschwüre. Zu den NSAR zählen so bekannte Schmerzmittel wie Acetylsalicylsäure und Ibuprofen – sie sind auch rezeptfrei erhältlich. Von Orthopäden viel verschrieben werden die Wirkstoffe Diclofenac und Piroxicam. Auf jedem Beipackzettel eines Diclofenac-Präparates heißt es im Kapitel „Nebenwirkungen“: „Mit dem Auftreten von Magen-Darm-Beschwerden … ist häufig zu rechnen“. In Packungsbeilagen bedeutet das Wort „häufig“: in mehr als zehn Prozent der Fälle. Je nach Anwendungsdauer können aus den Beschwerden Blutungen, Geschwüre oder Magenschleimhautentzündungen werden.

NSAR zählen zu den am meisten verordneten oder rezeptfrei gekauften Medikamenten. 1997 verbrauchten die Bundesbürger über 800 Millionen Tagesdosen, mehr als 10 pro Kopf. Die massenweise Anwendung dieser Mittel zeigt fatale Folgen: Wolfgang Bolten von der Rheumaklinik Wiesbaden fand in einer Studie heraus, dass NSAR-Konsum in Deutschland zu jährlich mehr als 10.000 Notfalleinweisungen ins Krankenhaus führt – wegen Magendurchbrüchen, akuten Geschwüren oder Magenblutungen. In zehn bis zwanzig Prozent der Fälle enden diese Komplikationen tödlich. Nach seriösen Schätzungen verursachen NSAR jährlich mehr als 1.500 Todesfälle – doppelt so viele wie AIDS.

Schmerzmittel sind für jede sechste Arzneimittel-bedingte Erkrankung verantwortlich. Fast die Hälfte aller Arzneien werden heute ohne Rezept gekauft – bei Kopfschmerzen sind es sogar über 70 Prozent. Für die so genannte Selbstmedikation spendieren die Deutschen jährlich über neun Milliarden Mark. Von diesem Kuchen wollen sich viele Unternehmen eine Scheibe abschneiden: Die Publikumswerbung nimmt ständig zu – vor allem im Fernsehen. Jeder kennt den gesetzlich vorgeschriebenen Pflichthinweis: „Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage und fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker“. Nach dem Heilmittelwerbegesetz soll dieser Hinweis wenigstens ein Minimum an verbindlicher Information sicherstellen. Denn Aussagen über die Risiken sind naturgemäß wenig verkaufsfördernd und werden von den Herstellern gerne im Kleingedruckten versteckt. „Der Pflichthinweis soll Medikamente von sonstiger Werbung absetzen“, erklärt Gerd Glaeske von der Universität Bremen, „und dem Zuschauer signalisieren: Was du gerade gesehen hast, war keine Werbung für Margarine oder Hustenbonbons, sondern für ein Arzneimittel“. Allerdings, so der Professor für Arzneimittelforschung, sei diese Lösung nicht befriedigend: „Ärzte können zu Mitteln der Selbstmedikation in der Regel wenig sagen; eigentlich sind hier nur Apotheker gefragt. Umfragen in Apotheken haben jedoch ergeben, dass es dort mit der Information hapert: Nur ein Viertel aller Apotheker informiert offensiv, der Rest verhält sich eher zurückhaltend.“

Apotheker stehen unter einem ungeheuren Konkurrenzdruck. Inzwischen gibt es in Deutschland mehr Apotheken als Bäckereien! Die Honorarstruktur müsse deshalb geändert werden, fordert Gerd Glaeske, damit der Apotheker ohne Umsatzverlust vom Kauf abraten könne: „Das geschieht beispielsweise in Holland, wo die Beratungszeit über eine Umlage von den Krankenkassen finanziert wird.“

Gefahren für die Gesundheit gehen nicht nur von Schmerzmitteln und Selbstmedikation aus. So häuft sich in jüngerer Zeit eine Krankheit mit der harmlos klingenden Abkürzung „HIT“: die Heparin-induzierte Thrombopenie. Heparin kennt jeder: Das Blutverdünnungsmittel wird nach Operationen regelmäßig gespritzt, um Thrombosen vorzubeugen. Was beim Einsatz eines neuen Hüftgelenks auch sehr sinnvoll ist, denn hier besteht ein hohes Thromboserisiko. Heparin kann aber auch selbst eine Thrombose auslösen. Das „Erfassungssystem für Arzneimittel-bedingte Erkrankungen“ am Zentralkrankenhaus Bremen dokumentierte, dass HIT in den letzten Jahren extrem zugenommen hat. Einer der Gründe: Heparin wird immer öfter auch bei vergleichsweise harmlosen Eingriffen gespritzt, z.B. nach Arthroskopien. Etwa zehn Tage nach der Heparinisierung kann es zur Lungenembolie kommen; einer von 1.000 Fällen endet tödlich.

Gefährliche Nebenwirkungen von Arzneimitteln treffen vor allem ältere Menschen. Das hat zwei Gründe: Erstens konsumieren Senioren über 60 Jahre mit Abstand die meisten Medikamente und zweitens wirken Arzneien im alternden Organismus anders. „Wir wissen viel zu wenig, welche Nebenwirkungen eigentlich auftreten“, beklagt Gerd Glaeske. „In klinischen Studien ist die Zahl der Probanden zu klein, um alle möglichen unerwünschten Wirkungen festzustellen. Und die Mittel werden an jungen Leuten getestet, nachher aber überwiegend von älteren Menschen eingenommen.“ In der alltäglichen Praxis kommt es oft zu Situationen, die in der klinischen Prüfung nie erprobt wurden: Senioren schlucken sechs bis acht Medikamente parallel, damit steigt das Risiko und die Gefahr von Wechselwirkungen. Außerdem reagieren alte Menschen auf Grund körperlicher Veränderungen empfindlicher auf Arzneimittel. Sogar eine Wirkungsumkehr ist möglich.

Während im Schnitt ein Prozent aller Einweisungen ins Krankenhaus auf Arzneimittel-bedingte Erkrankungen zurückgeht, sind es bei geriatrischen Patienten bis zu 15 Prozent. So können Magenmittel oder Blutdrucksenker Verwirrtheitszustände auslösen. Auffallend oft bekommen alte Menschen Schlaf- und Beruhigungsmittel verordnet. Auch diese fördern eine frühzeitige Demenz und erhöhen die Sturzgefahr. Nicht wenige Oberschenkelhalsbrüche dürften ursächlich auf die Einnahme von Schlaftabletten und Beruhigungspillen zurückgehen.

Ein Archivbeitrag* aus ORTHOpress 2 | 2000

*Archivbeiträge spiegeln den Stand zur Zeit der Erstveröffentlichung wieder. Die aktuelle Einschätzung des Sachverhalts kann durch Erfahrungszuwachs, allgemeinen Fortschritt und zwischenzeitlich gewonnene Erkenntnisse abweichen.