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Krankheitsbilder

Stürze im Alter:

Active senior couple on a walk in a beautiful autumn nature.

Gefahr erkannt – Gefahr gebannt

Viele von uns werden lange leben: 40% der Frauen und 21% der Männer werden ihren 85. Geburtstag feiern. Manche davon erreichen dieses Alter allerdings nicht bei guter Gesundheit: Sie werden sich nur mühsam oder gar nicht mehr selbstständig fortbewegen können, weil sie an Bett oder Rollstuhl gefesselt sind.

Die Gründe dafür sind vielfältig. Insbesondere Stürze sind im Alter überaus häufig: Ca. 30% aller Menschen über 65 Jahre stürzen mindestens einmal im Jahr – bei den über 80-Jährigen steigt die jährliche Sturzquote gar auf 50%. Diese Stürze ereignen sich dabei nicht etwa unter besonderen Umständen, sondern in ganz gewöhnlichen Alltagssituationen, die sonst selbstverständlich gemeistert wurden. Etwa 5% davon führen zu Frakturen; ein Fünftel davon wiederum sind „proximale Femurfrakturen“, das ist der medizinische Ausdruck für den gefürchteten Oberschenkelhalsbruch.

Gerade diesen aber gilt es unter allen Umständen zu verhindern: Ein Jahr später liegen trotz der modernen Unfallchirurgie bei dieser Patientengruppe die Sterblichkeits- und Pflegeheimquote jeweils um 20% über der vergleichbarer Patienten. Nur ein Drittel der Patienten mit sturzbedingter Hüftfraktur ist nachher wieder so gut zu Fuß wie zuvor.

Bei einem Sturz brechen aber nicht nur die Knochen. Es bricht auch das Selbstwertgefühl, die Zuversicht und die Aktivität. Aus Unsicherheit und Angst reduzieren 40% der Sturzpatienten ihre körperliche Aktivität und geraten so in eine Spirale der Inaktivität und des geistigen und körperlichen Abbaus.

Sind Stürze im Alter Schicksal oder Zufall?

Betrachten wir ein Skelett, so hat der Mensch als aufrecht gehender Zweibeiner die Aufgabe, 30 Knochenetagen übereinander zu balancieren wie ein aufrecht stehendes Pendel. Rumpf, Kopf und Arme haben 80% Anteil am Körpergewicht, sind locker und beweglich über den Beinen angebracht und müssen bei allen Bewegungen in eine stabile Position geführt werden. Die Unterstützungsfläche des Körpers ist dabei klein und in ständiger Bewegung. Der Schwerpunkt des Rumpfes aber liegt hoch über dem Boden vor dem 10. Brustwirbel. Diese Haltung koordinieren wir ein Leben lang völlig automatisch, ohne darüber nachzudenken. Mit zunehmendem Alter jedoch werden Teilkomponenten unseres Körpers, die diese Kontrolle gewährleisten, allmählich weniger leistungsfähig. Diesen Prozess der abnehmenden Balance gilt es unter allen Umständen aufzuhalten.

Wie erkennen wir den Zeitpunkt zunehmender Sturzgefahr?

Sturzgefährdete Personen unterscheiden sich in ganz bestimmten Merkmalen von ihren stabilen Mitmenschen. In den maßgeblichen wissenschaftlichen Studien fanden sich die folgenden 6 grundlegenden Sturzrisikofaktoren, von denen ein Sturzpatient zumeist gleich mehrere gleichzeitig aufweist:

1) Verminderung von Muskelkraft und Muskelleistung der unteren Extremitäten

2) Verminderung der seitlichen Balance

3) Störungen in der Gleichmäßigkeit des Gehens

4) Sehstörungen

5) Störungen von Denken und Gedächtnis

6) Vielfachmedikation = mehr als 4 verschiedene Medikamente mit zum Teil sturzfördernden Eigenschaften (Neuroleptica, Antidepressiva, Antikonvulsiva)

Um diese Risiken gezielt zu verringern, ist in den geriatrischen Aerpah-Kliniken in Esslingen und Ilshofen ein ganzheitliches, fächerübergreifendes Modell zur Früherkennung und Verhinderung von Stürzen entwickelt worden. In einer Spezialabteilung, der „Mobility Clinic“, werden die Sturzrisikofaktoren mit speziellen Testverfahren identifiziert und gemessen. Aus dem individuellen Risikoprofil ergibt sich danach die gezielte Therapie. Die Via Mobilis z.B. ist eine Anlage zur Sturzsimulation (Abb. 1). In einem Haltegurt gesichert, werden die Patienten auf einem fahrbaren Schlitten beschleunigt und abgebremst, ihre Auffangreaktionen werden untersucht und trainiert. Besonders die seitliche Balance hat Vorhersagewert für Sturzgefahr, sie wird auch auf Balancebalken und Balancebrettern geübt.

Die Muskelleistung als Produkt aus Kraft und Geschwindigkeit erwies sich in wissenschaftlichen Studien als wichtigster Messwert zur Sturzgefahr und Sturzvermeidung. Muskelkraft, Muskelleistung und Koordination können heute mit einer elektronischen Messplattform (Elektromechanografie mit der Leonardo-Platte, Novotec, Pforzheim) bestimmt werden, und zwar in freier, natürlicher Bewegung (Abb. 2). Sprünge, Aufstehmanöver und verschiedene andere Bewegungsabläufe geben Aufschluss über Kraft, Schnelligkeit und Koordination. Auf der Basis dieser Messwerte können dann die therapeutischen Maßnahmen genau geplant und kontrolliert werden. Klinische Testverfahren ergänzen das Bild.

Je genauer die Diagnostik, umso effektiver die Therapie. Eine Reihe von Maßnahmen können gerade in ihrer Kombination die Zahl der Stürze oder Sturzfolgen vermindern:

1) Ein Hüftprotektor („Safehip“) kann bei Stürzen das Frakturrisiko erheblich herabsetzen.

2) Kraft- und Balancetraining sind auch in hohem Alter möglich und wirkungsvoll.

3) Medikamentös interessant ist auf Grund neuer Daten besonders Alfacalcidol, ein Vorläufer des aktiven D-Hormons, das den pathophysiologischen Engpass der Hydroxylierung in der Niere umgeht und auf Knochen und neuromuskuläre Funktionen gleichermaßen wirkt.

4) Medikamentenanpassung und Änderungen von Verhalten und Umgebung gehören ebenfalls zu einer umfassenden Sturzprävention.

Die Hüftprotektion ist mittlerweile eine Standardmaßnahme bei Sturzgefahr. Das wissenschaftlich am besten untersuchte Hüftprotektorsystem Safehip, entwickelt von dem dänischen Unfallchirurgen Prof. Lauritzen, besteht aus Kunststoffschalen, die seitlich in einer fixierenden Baumwollunterhose sitzen (Abb. 3). Die Schalen absorbieren die Sturzenergie und leiten die Kraft vom besonders gefährdeten Rollhügel in die Weichteile ab. Neben dem passiven Schutz kann das System Zuversicht und Aktivität der Patienten steigern und dadurch ihre motorische Aktivität erhalten oder erhöhen.

Steigerungen von Kraft und Balance sind durch entsprechende Übungen auch in höchstem Alter noch möglich. Mitte der Neunzigerjahre hat die amerikanische Forscherin Fiatarone überzeugend bewiesen, dass Pflegeheimbewohner selbst weit jenseits des 80. Lebensjahres mit konventionellem Krafttraining noch mehr als 100% Zuwachs an Muskelkraft erreichen konnten. Moderne geriatrische Kliniken stellen das Krafttraining in ihren Therapiekonzepten deshalb weit nach vorn.

Verheißungsvoll sind die Steigerungen der Muskelleistung, die mit der reflektorischen Muskelstimulation/Ganzkörpervibration mit den Galileo-Geräten erreicht wurden. Hier steht der Übende auf einer Wippe, die mit 27 Hz um eine Achse senkrecht zum Patienten schwingt (Abb. 4). Die Wippe stößt die Beine und damit die ganze Bewegungskette rhythmisch nach oben und verlängert so die Muskeln, die mit einer reflektorischen Kontraktion reagieren. Diese Methode arbeitet mit Rückenmarksreflexen, die wir beim aufrechten Gang schon deshalb brauchen, weil der Weg zum Großhirn für die Regulation des Systems zu lange wäre. In einer kontrollierten Studie bei 2 Monaten Training (3×6 Minuten pro Woche an drei Tagen) konnten durchschnittlich 20% Leistungssteigerung gemessen werden.

Im Gegensatz zu einem Ansatz, der vorwiegend die Behandlung der Osteoporose zur Frakturvermeidung ins Zentrum stellt, zielt der geriatrische Ansatz ganzheitlich auf Sturzvermeidung und Knochenfestigkeit. Es ist bekannt, dass Krafttraining und reflektorische Muskelstimulation sich nicht nur auf den Muskel auswirken: Die Natur hat Muskeln und Knochen in einem komplexen Regelkreis aneinander gekoppelt, was bereits vor gut 100 Jahren der Berliner Anatom Julius Wolff erkannt und formuliert hat.

Zu einem umfassenden Frakturpräventionsprogramm gehören natürlich alle bewährten Behandlungen der Osteoporose. Alfacalcidol hat in einer amerikanischen Studie nicht nur zu einer Verbesserung der Knochenfestigkeit geführt, sondern auch zu einer Reduktion der Stürze. Auf Grund der seltenen und überschaubaren Nebenwirkungen (ganz selten Hypercalcämie) ist es für ältere Menschen mit Sturzgefahr und Osteoporose ein geeignetes Medikament. Auch die relativ neue Medikamentengruppe der Bisphosphonate kann den weiteren Knochenabbau effektiv aufhalten und so auch bei bereits erfolgten Frakturen das Risiko erneuter Knochenbrüche entscheidend senken.

Die vorgestellten Diagnoseverfahren, ergänzt um eine Knochendichtemessung, können im Einzelfall sagen, wie groß die Frakturgefahr und damit die Notwendigkeit von Gegenmaßnahmen ist. Diese Prävention sollte bei der steigenden Lebenserwartung daher höchsten Stellenwert genießen – was nützt schließlich das Erreichen eines biblischen Alters, wenn man es nicht genießen kann?

ORTHOpress 3 | 2001

Alle Beiträge dienen lediglich der Information und ersetzen keinesfalls die Inanspruchnahme eines Arztes*in. Falls nicht anders angegeben, spiegeln sie den Stand zur Zeit der Erstveröffentlichung wider. Die aktuelle Einschätzung des Sachverhalts kann durch Erfahrungszuwachs, allgemeinen Fortschritt und zwischenzeitlich gewonnene Erkenntnisse abweichen.