Unsere Wirbelsäule ist ein mechanisches Wunderwerk – Sie sorgt gleichzeitig für Stabilität und Beweglichkeit, übt eine Stoßdämpferfunktion aus und ermöglicht uns den aufrechten Gang. Sie ist allerdings auch im Alltag sehr hohen mechanischen Belastungen ausgesetzt. Dabei können Irritationen entstehen, die als Hauptschmerzquelle für viele weitere Beschwerden anzusehen sind. ORTHOpress führte ein Gespräch mit Fachärzten der verschiedenen Disziplinen über die Statik der Wirbelsäule.
Nicht wenige Forscher gehen heute davon aus, dass unsere Wirbelsäule eine Fehlkonstruktion ist, weil die evolutionäre Aufrichtung der Säugetiere ursprünglich so „nicht vorgesehen“ war. Sind also Rückenschmerzen daher nicht sowieso unvermeidbar?
Gregor Pfaff, Orthopäde, München: Die Wirbelsäule ist an die aufrechte Haltung des Menschen hervorragend angepasst. Alle natürlichen Belastungen und Bewegungen werden optimal vom Haltungs- und Bewegungsapparat durchgeführt. Bei der Ausbildung von Knochenfestigkeit, Stabilität von Gelenken, Belastbarkeit der Wirbelsäule einschließlich der Bandscheiben ist über Tausende von Jahren eine entsprechende Anpassung und Optimierung erfolgt, so dass von einer „Fehlkonstruktion“ keinesfalls die Rede sein kann.
Entstehende Schmerzen sind nur zum geringeren Teil tatsächlich im Bereich der Bandscheiben oder der Wirbelgelenke lokalisiert, vielmehr sind sie zu fast 90 Prozent in den durch Fehlhaltung und Fehlfunktion verursachten Muskelverspannungen begründet. Die Muskelfunktion der Wirbelsäule beginnt, wenn man es unter neurophysiologischen Aspekten anschaut, mit der Muskelspannung unserer Füße. Finden sich dort schwache Muskelspannungen und damit eine Abflachung der Fußgewölbe, so ist die Abstützung des gesamten Bewegungsapparates und damit auch der Wirbelsäule geschwächt.
Wie sehr beeinträchtigt unsere optische Wahrnehmung Statik und Balance der gesamten Körperhaltung? Kann schon eine geringe Fehlsichtigkeit zu Problemen führen?
Dr. Rolf Rädel, Orthopäde, Herne: Das räumliche Sehen trägt ganz entscheidend zur Steuerung unserer Körperhaltung bei. Das optische System, im Zusammenspiel mit dem Gleichgewichtssinn, erlaubt die Steuerung und Koordination zwischen Kopf, Halswirbelsäule und Gesamthaltung. Eine möglichst große Umsicht im Raum ist durch die Beweglichkeit der HWS, des Kopfes und der Augen selbst gewährleistet. Die 12 Augenmuskeln, 6 an jeder Seite, müssen die optischen Achsen mit extremer Genauigkeit einstellen, um auf der Netzhaut ein scharfes Bild bei allen Augen- und Körperbewegungen zu garantieren. Abweichungen müssen mit Muskelmehrarbeit der Augen kompensiert werden. Diese Abweichungen (Winkelfehlsichtigkeiten) können Auslöser für verschiedene orthopädische Beschwerden sein. Aber auch die äußeren Bedingungen an einem Bildschirmarbeitsplatz oder die Stellung von Fernsehgeräten kann die Augenfunktion in Verbindung mit der Kopfhaltung negativ beeinflussen.
Viele Menschen verkrampfen bei einer Fehlhaltung ihre Kaumuskulatur so sehr, dass sie zu ausstrahlenden Schmerzen führt. Welche Rolle spielen Zähne und Kiefer im Gesamtgefüge unserer Statik?
Dr. Sabine Herbricht, Zahnärztin, Köln: Betrachtet man Zahngesundheit in Bezug auf das Knochengerüst, so muß sie mit der Gesamtstatik in Zusammenhang gebracht werden. Statik im Kieferbereich, d.h. die Lage des Unterkiefers und der Kiefergelenke im Bezug zum Restgesichtsschädel ist abhängig von der Anzahl, der Stellung, und auch der Höhe der Zähne. Kommt es – durch welche Erkrankung auch immer – zum Höhenverlust, muß die Kaumuskulatur vermehrt Spannung aufbauen, um die relativ voneinander entfernten Kiefer zusammenzubringen, damit die Nahrung zerkleinert werden kann.
Wie vielleicht aus der Physik (den „Hebelgesetzen“) noch bekannt, bedingt jede Kraft eine Gegenkraft, um im Gleichgewicht zu bleiben. Die Muskeln aber, welche die Gegenspieler der Kaumuskulatur bilden, sind nicht zuletzt auch die Nackenmuskeln. So erklärt sich, dass aus verspannten Kaumuskeln auch oft verspannte und verkürzte Nackenmuskeln resultieren.
Dr. Toni Schmidt, Kieferorthopäde, München: Dem Kiefergelenk kommt natürlich eine wesentliche, aber nicht die alleinige Bedeutung zu. Der orofaziale Raum oder Mundraum muss als einer der wichtigsten Bereiche im menschlichen Körper gesehen werden. Mit der Nahrungsaufnahme, der Atmung und mit unserer Sprache nehmen wir Kontakt mit der Umwelt auf, hier erfolgt die neurologische Organisation des Menschen. Diese sensomotorischen Informationen aus dem Mundraum beeinflussen ganz wesentlich die Lage und Orientierung des Kopfes und tragen damit zur Bewegungs- und Haltungskontrolle des Körpers im Raum bei. So kann z.B. ein Schmerz im Bereich der HWS durch Störungen im Mundraum oder am Kiefergelenk verursacht sein.
Viele Schmerzen entstehen im Spannungsfeld zwischen Schädel, Kiefer und Halswirbelsäule. Können hier Techniken wie die cranio-sakrale Osteopathie helfen?
Dr. Ulrich Dreisilker, Orthopäde, Mettmann: Durch Störfaktoren auf körperlicher, aber auch psychischer Ebene kommt es zu Fehlfunktionen der Haltungsmuskulatur (posturale Muskelketten), die unseren Körper von Kopf bis Fuß und umgekehrt von Fuß bis Kopf durchziehen. Diese Muskulatur ermüdet nur langsam und erholt sich schnell. Sie neigt zu Verkürzungen und entwickelt so genannte Triggerpunkte mit manchmal fernab liegenden schmerzhaften Referenzzonen. So kann eine Blockade am Fuß oder eine Störung im Kiefer-Kopfgelenksbereich zu Wirbelsäulen- oder Kreuzdarmbeingelenksblockierungen und entsprechenden muskulären Verkürzungen (Triggerpunkten) und Dysbalancen führen. Die funktionelle Orthopädie soll sich daher nicht allein an den Symptomen (Schmerzen – Muskelverkürzungen – Triggerpunkten) orientieren, sondern muss die Statik des Patienten als individuelles Produkt einer Vielzahl von Muskelfunktionen analysieren. Dies erreicht man effizient durch eine dreidimensionale Vermessung, Untersuchung des craniosacralen Systems, des Gleichgewichts, der Augensteuerung und der Muskelfunktion der Fußsohlen.
Welchen Sinn macht es, die Bandscheiben von ihrer Aufgabe zu entlasten? Was bringen Einlegesohlen und Schuhe mit spezieller Gel- oder Mooseinlage?
Gregor Pfaff, Orthopäde, München: Durch unsere aufrechte Haltung kommt es zu erheblichen Druckbelastungen an den Bandscheiben und Wirbelgelenken. Um die Bandscheiben zu entlasten, muss man aus orthopädischer Sicht die Statik des Patienten analysieren, Verformungen, Verdrehung und Fehlhaltungen der Wirbelsäule als Grundlage der Fehlbelastung der Bandscheiben untersuchen. Z.B. kann eine verspannte, steil gestellte Wirbelsäule nicht elastisch und dämpfend auf die Stoßimpulse beim Gehen reagieren. Durch Einlegesohlen und spezielle Schuhe mit Weichpolsterung hat man bisher versucht, die Dämpfung und die Fußbettung zu verbessern. Diese Methoden sind ihrem Prinzip nach passiv und abstützend, sie haben auf die Muskulatur einen schwächenden Einfluss und werden von uns nur noch in Ausnahmefällen verordnet. Vielmehr ist die funktionelle Integration des Muskelsystems von Kopf bis Fuß von entscheidender Bedeutung für die Belastung der Bandscheiben. Als innovative, aktivierende Fußreflexstimulation verwenden wir prallelastische Spezialeinlagen, die sowohl die bestmögliche Dämpfung als auch die Stimulation und Koordination des Muskelsystems zum Schutz der Bandscheiben bewirken.
aus ORTHOpress 2 | 2002
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