Epidurale Bandscheibenbehandlung ersetzt Operation
Nicht Sport-, Auto- oder Haushaltsunfälle sind, wie vielfach angenommen, bei unter 45-jährigen die häufigste Ursache für Arbeitsunfähigkeit: Es sind die Rückenerkrankungen, die auch und insbesondere junge Menschen im wahrsten Sinne des Wortes “flach legen”. Verantwortlich dafür sind in den meisten Fällen die “Stoßdämpfer” unserer Wirbelsäule, die Bandscheiben. Etwa ab dem 20. Lebensjahr verliert ihr gallertartiger Kern an Flüssigkeit und Elastizität; das Volumen der einzelnen Bandscheibe nimmt ab.
Die Volumenabnahme allein ist nicht schmerzhaft. Wölbt sich jedoch ein Teil des gallertartigen Kerns aus dem äußeren Faserring der Bandscheibe heraus und drückt auf einen im Wirbelkanal verlaufenden Nerv oder Rückenmarkshäute, so spricht man von einem “Bandscheibenvorfall”.
Bis vor wenigen Jahren bedeutete diese Diagnose oftmals die ewige Verbannung vom Spielfeld auf den Zuschauerrang, das ultimative Aus für beinahe jede über bloßes Sitzen und langsames Spazierengehen hinausgehende Bewegung. In Schüben auftretender Schmerz, die Angst vor Lähmungserscheinungen, drohender Operation und einem Leben im Rollstuhl ließ auch junge Menschen in der Blüte ihrer Jahre zu passiven Schmerzpatienten werden, die die Hoffnung auf ein Leben ohne Schmerz weitgehend aufgegeben hatten.
Dies muß heute nicht mehr so sein: Insbesondere das epidurale Katheterverfahren hat die Orthopäden in die Lage versetzt, auch solchen Patienten zu helfen, bei denen der Rückenschmerz chronisch geworden ist. Bei der in den USA von Prof. Gabor Racz aus Texas entwickelten Behandlungsmethode muß im Gegensatz zur “klassischen” Operation der Wirbelkanal nicht geöffnet werden; die Belastung für den Patienten ist daher vergleichsweise gering.
Durch eine einzige, kaum sichtbare Öffnung führt der Arzt dabei einen dünnen, extrem biegsamen Katheter in den Wirbelkanal ein, wobei die exakte Lage des Katheters ständig per Bildwandler oder endoskopisch kontrolliert wird.
Über diesen Katheter wird dann eine Enzymlösung injiziert, welche der betroffenen Bandscheibe Flüssigkeit entzieht. Dadurch schrumpft diese an der gewünschten Stelle so, daß der Druck auf den Nerv verringert wird – die Beschwerden des Patienten verschwinden meist sofort. Der einmal gelegte Katheter verbleibt noch 2-4 Tage an der gleichen Stelle, so daß die Injektionen noch mehrfach wiederholt werden können. Danach kann der Patient entlassen werden; nach weiteren zwei Wochen kann er sogar wieder Sport treiben – bei einer offenen Wirbelsäulen-OP hingegen müßte der Patient Wochen und Monate warten, bis die Operationswunde verheilt und der Behandlungserfolg eingetreten ist – wenn er denn überhaupt eintritt, denn die Aussichten, nach einer Wirbelsäulen-OP ein Leben “wie früher” wieder aufnehmen zu können, sind je nach Schwere des Eingriffs keineswegs immer rosig. “Der Erfolg einer offenen OP liegt in vielen Fällen nach meiner Einschätzung bei nicht einmal 50%”, erläutert der Berliner Orthopäde Dr. Buntin, und er steht mit seiner Meinung nicht allein, wie die Nachfrage nach der neuen “sanften” Therapie beweist.
Auch nach Dr. Buntins Ansicht wird mit dieser Behandlungsmethode langfristig ein großer Teil der früher durchgeführten Operationen überflüssig. Laut einer in Stuttgart durchgeführten Studie waren noch zwei Jahre nach der Katheterbehandlung 66,6% der Therapierten schmerzfrei oder gaben an, nur “gelegentliche Rückenschmerzen” zu haben. Auch bezüglich der Medikamenteneinnahme stellte sich heraus, daß vor der Behandlung 87% der Patienten regelmäßig Schmerzmittel einnahmen, wohingegen sich der Wert nach der Behandlung auf 45,5% verbesserte.
Der Vorteil des Katheterverfahrens liegt dabei nicht nur in der vergleichsweise hohen Erfolgsquote, sondern auch in der geringen physischen Belastung durch den Eingriff selbst. Insbesondere für ältere Patienten kommt aufgrund bestehender Vorerkrankungen (Koronare Herzkrankheit, allgemeine Herz/Kreislauferkrankungen, Durchblutungs- und Stoffwechselstörungen) eine offene OP unter Vollnarkose wegen des erhöhten Operationsrisikos nicht in Betracht. Mit dem Katheterverfahren hingegen kann selbst Risikopatienten effektiv geholfen werden, die in der Vergangenheit auf die Verabfolgung hochdosierter Schmerzmittel angewiesen waren.
Inzwischen treten zahlreiche Schmerztherapeuten im In- und Ausland für die Verbreitung dieses minimalinvasiven Verfahrens ein. Sie hoffen, daß auf diese Weise in Zukunft den meisten Opfern von Bandscheibenvorfällen ohne Operation geholfen werden kann. Dr. Buntin, der in der Gemeinschaftspraxis Dr. Buntin/Dr. Roggenbrock in Berlin das Verfahren durchführt, ist zuversichtlich, mit dem epiduralen Katheterverfahren nicht nur vielen Akut-Rückenpatienten die Operation zu ersparen, sondern darüber hinaus noch Fehler der Vergangenheit beseitigen zu können: Das Verfahren bewährt sich auch bei Patienten, die aufgrund von Narbenbildung und Verwachsungen nach einer bereits erfolgten OP (sog. failed back surgery) immer noch nicht schmerzfrei sind. Auch diese bisher als “austherapiert” geltenden Patienten können so neue Hoffnung durch den sanften Schmerzkiller schöpfen.
Ein Archivbeitrag* aus ORTHOpress 1 | 2000
*Archivbeiträge spiegeln den Stand zur Zeit der Erstveröffentlichung wieder. Die aktuelle Einschätzung des Sachverhalts kann durch Erfahrungszuwachs, allgemeinen Fortschritt und zwischenzeitlich gewonnene Erkenntnisse abweichen.