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Krankheitsbilder

Ich höre was, was Du nicht hörst

Tinnitus. Closeup up side profile sick female having ear pain touching her painful head. Concept photo with indicating location of the pain. Health care concept

Leben mit dem Tinnitus

Können Sie sich das vorstellen? Keine Sekunde mehr Stille, ständig ein Klingeln, Pfeifen, Rauschen, Summen oder Brummen im Ohr – besonders laut und belästigend, wenn man abends zur Ruhe kommen und einschlafen möchte. Das Geräusch – durch nichts zu verdrängen, beherrschend, besitzergreifend und zermürbend. Als Tinnitus (von lat. tinnire = klingeln) werden diese Ohrgeräusche bezeichnet. Sie entwickeln sich immer mehr zu einer echten Volkskrankheit. Pro Jahr machen etwa zehn Millionen Deutsche Erfahrungen mit Ohrgeräuschen. Bei ca. 340.000 von ihnen bilden sie sich nicht mehr spontan zurück, so dass inzwischen knapp drei Millionen Menschen in Deutschland davon dauernd betroffen sind. Damit liegt die Quote ähnlich hoch wie bei Diabetes. Aber zum Glück leiden nicht alle gleich stark darunter. Die Deutsche Tinnitus-Liga schätzt, dass etwa 1,5 Millionen Bundesbürger ihren Tinnitus als Krankheit empfinden. 

Eine einheitliche Ursache für das Entstehen der Ohrgeräusche gibt es nicht. Chronische Lärmschädigungen, akute Knallverletzungen oder ein Hörsturz werden als Auslöser vermutet. Aber auch Erkrankungen der Halswirbelsäule oder der Kiefergelenke und der Kaumuskulatur werden ebenso als Ursachen verdächtigt wie Durchblutungsstörungen oder besondere Stresssituationen. Verschiedenste Theorien werden zur Erklärung herangezogen. Die einen vermuten die Ursache in einer Störung des Innenohres, andere machen zentrale Strukturen im Gehirn verantwortlich. Einige sehen in ihnen eine Art Phantomschmerz: Genau wie zum Beispiel ein Fuß nach einer Amputation noch lange schmerzhaft spürbar bleiben kann, würden sich nach dieser Theorie bestimmte Frequenzen, die durch eine Zerstörung der Haarzellen im Innenohr nicht mehr wahrgenommen werden, als nicht unterdrückbare Hörsensationen bemerkbar machen. Tinnitus tritt nämlich bei Menschen mit Hörschäden deutlich häufiger auf als bei Normalhörenden. 

Ein Teil der Forscher vermutet, dass bei allen Menschen Ohrgeräusche auftreten, die aber vom Gehirn permanent als unwichtig weggefiltert werden. Nur wenn dieses Filtersystem nicht mehr funktioniere, würden einem die Geräusche bewusst werden. Besonders quälend ist für viele Betroffene die Tatsache, dass die Geräusche nur in den seltensten Fällen objektivierbar sind, das heißt, nur die Betroffenen selbst nehmen diese Geräusche wahr. Vielfach wurden, und werden sie zum Teil noch heute, deswegen als Simulanten hingestellt. Allerdings kann man heute z.B. mit der Positronen-Emissions-Tomographie nachweisen, dass es mit dem Tinnitus gekoppelt zu bestimmten Aktivitäten der Großhirnrinde kommt, der Tinnitus existiert somit und ist nicht primär eine psychische Störung. 

Aktive Mitarbeit – A und O der Therapie

Manche Betroffene fühlen sich durch das permanente Geräusch so massiv beeinträchtigt, dass es zu verschiedenen Folgeerscheinungen kommen kann, wie Konzentrationsschwäche, Schlafstörungen, Überempfindlichkeit gegenüber anderen Geräuschen, Depressionen und sozialem Rückzug bis hin zum völligen Verlust des Selbstvertrauens. Der Tinnitus wird zum Lärm der Seele. Es ist daher ganz wichtig, Strategien zu entwickeln, um mit den Geräuschen leben zu können. Dabei kommt es ganz entscheidend auf die Mitarbeit der Betroffenen an. Eine Pille, einen Heiltee oder sonstige Wundermittelchen zur Heilung gibt es nicht. Ohne aktiven Einsatz der Betroffenen kann das Problem nicht gelöst werden. 

Die moderne Tinnitus-Therapie geht davon aus, dass die quälenden Geräusche tatsächlich vorhanden sind und dass der Tinnitus nicht heilbar ist. Aber man kann lernen, den Geräuschen weniger Aufmerksamkeit zu schenken und sie dadurch weniger intensiv wahrzunehmen, so wie man das Brummen des Kühlschranks in der Regel auch nicht mehr hört. Sowohl körperliche als auch seelische Gesichtspunkte werden bei dieser so genannten Tinnitus-Retraining-Therapie nach Jastreboff berücksichtigt. Sie basiert auf der Annahme, dass man genau so, wie man nach und nach dem Tinnitus immer mehr Beachtung und Aufmerksamkeit gewidmet hat, lernen kann, diese Aufmerksamkeit wieder vom Tinnitus abzulenken. Ziel der über 12 bis 24 Monate laufenden, meist ambulant durchgeführten Therapie ist eine Gewöhnung an den Tinnitus und seine Beherrschung im Alltag. 

Ruhe bewahren – in jeder Phase der Erkrankung

Beim erstmaligen Auftreten von Ohrgeräuschen sollte man möglichst ruhig bleiben und am besten eine Nacht darüber schlafen. Wenn am nächsten Morgen die Geräusche allerdings nicht verschwunden sind – was zum Glück aber meistens der Fall ist –, sollte man sich unverzüglich in Behandlung zu einem Hals-Nasen-Ohrenarzt begeben. Denn für eine Therapie gilt: „Je früher, desto besser.“ Je länger der Tinnitus anhält, umso unwahrscheinlicher wird es, dass er wieder verschwindet. Die Kunst ist, das Geräusch nicht lebensbestimmend werden zu lassen. Oft hilft es da schon, die Angst zu nehmen durch die Aufklärung, dass Tinnitus ein gutartiges Symptom ist und kein Anhaltspunkt für eine schwerwiegende oder lebensbedrohliche Erkrankung besteht. 

Viele Patienten, die eine Retraining-Therapie beginnen, haben einen jahrelangen Leidensweg hinter sich und im Schnitt schon zehn verschiedene Therapien ausprobiert. Für manche Betroffene ist daher der Beginn der Behandlung in einer Tinnitus-Klinik durchaus sinnvoll. Neben der Aufklärung und der Vermittlung von Wissen über die Erkrankung ist die psychologische Betreuung sehr wichtig. Es geht dabei um die Aufdeckung von inneren Anspannungen, unbewussten Konflikten oder bis dahin nicht wahrgenommenen depressiven Verstimmungen. Gleichzeitig werden Entspannungstechniken erlernt, die ein besseres Stressmanagement ermöglichen. Alltagsbelastungen lassen sich so besser meistern, die Lebensqualität steigt. 

Durch ein Hörtraining wird versucht, andere Geräusche neben dem eigenen Tinnitus wieder wahrzunehmen, ihnen Aufmerksamkeit zu schenken, sich an ihnen zu freuen und sie nicht als Bedrohung anzusehen. Bei der Konzentration auf andere Geräusche können technische Hilfsmittel von Vorteil sein. Mit ihnen wird ein ständiges leises, als angenehm empfundenes Rauschen erzeugt, das allerdings nicht lauter als der Tinnitus sein sollte. Es lenkt die Aufmerksamkeit vom Tinnitus ab, überdeckt ihn aber nicht. Statt ständig zu kontrollieren, ob der Tinnitus noch da ist, konzentriert man sich darauf, ob das Rauschen noch zu hören ist. Für den Therapieerfolg ist es nämlich wichtig, äußere Stille zu vermeiden, denn in der Stille werden die Ohrgeräusche in der Regel als besonders qualvoll empfunden. 

Aus dem „Feind“ wird ein „Lebensbegleiter“ 

Bereits nach sechs Monaten nehmen 30 Prozent der „Trainierenden“ ihre Ohrgeräusche deutlich weniger störend wahr. Nach 24 Monaten steigert sich dieser Prozentsatz auf 70 bis 80. Die Therapieteilnehmer geben an, dass ihnen ihr Tinnitus „kaum noch bewusst sei“. Diese Erfolge sind in jedem Stadium der Erkrankung möglich, bedürfen aber immer der aktiven Mitarbeit der Betroffenen. Dass diese Behandlung nicht von einem Therapeuten allein durchgeführt werden kann, versteht sich von selbst. Die enge interdisziplinäre Zusammenarbeit von Hausärzten, HNO-Ärzten, Hörgeräteakustikern, Psychologen, Psychotherapeuten und je nach Ursache auch von Orthopäden und Zahnärzten ist Voraussetzung für den Erfolg. Inzwischen erkennen auch immer mehr Krankenkassen den Wert einer solchen Behandlung und übernehmen die Kosten dafür. 

Leben mit Tinnitus

Mit Tinnitus sollten Sie all das machen, was Sie auch ohne ihn gerne machen würden. Gestalten Sie insbesondere Ihre Freizeit nach Ihren Interessen und Bedürfnissen:

  • Vermeiden Sie Stille, freuen Sie sich über Geräusche und „klappen Sie Ihre Ohren nach außen“.
  • Ohrschützer sollten Sie nur tragen, wenn auch Gesunde sie verwenden würden.
  • Schließen Sie sich einer Gruppe Betroffener an und tauschen Sie Ihre Erfahrungen aus ohne zu jammern.
  • Spielen Sie weiter ein Instrument, genießen Sie die Musik. Sie tut Ihrer Seele gut. 
  • Lassen Sie sich von schönen Klängen anregen. Kino, Tanzen, Konzerte – allerdings nicht zu laut.
  • Reisen Sie, wenn es Ihnen Freude bereitet – auch mit dem Flugzeug kein Problem. 
  • Treiben Sie Sport. Jede Aktivität, die Ihr Leben bereichert, ist zu empfehlen. 
  • Eine Tinnitus-Diät gibt es nicht, Alkohol sollten Sie aber nur in Maßen genießen, Nikotin ist tabu. 

aus ORTHOpress 2 | 2002
Alle Beiträge dienen lediglich der Information und ersetzen keinesfalls die Inanspruchnahme eines Arztes*in. Falls nicht anders angegeben, spiegeln sie den Stand zur Zeit der Erstveröffentlichung wider. Die aktuelle Einschätzung des Sachverhalts kann durch Erfahrungszuwachs, allgemeinen Fortschritt und zwischenzeitlich gewonnene Erkenntnisse abweichen.

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