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Zahnmedizin

„Ein Krückstock für die Zähne“

Kiefergelenk

Kiefergelenktherapie als Therapie mit Biss

Die weit verbreiteten Fehlstellungen an den Kiefergelenken können nicht nur auf eine anlagebedingte Störung, wie z.B. einen Schmalkiefer, oder auf schlechte Angewohnheiten (wie Daumenlutschen, Zähneknirschen oder auch Telefonieren bei Schieflage des Kopfes, mit eingeklemmtem Hörer) zurückgeführt werden, sondern auch auf zahnärztliche Maßnahmen selbst (Ersatzfüllungen, Kronen, Kieferorthopädie usf.). Noch fataler als die Vielfalt der Ursachen sind hier die Konsequenzen. Denn hat man erst einmal den „richtigen Biss“ verloren, so kann es zu weit reichenden Erkrankungsfolgen im gesamten Organismus kommen. Was Rückenschmerzen in der Zahnheilkunde verloren haben und welche ungeahnten Zusammenhänge unseres Kauorgans mit anderen Körpersystemen überhaupt bestehen, dazu hat Orthopress Sabine Herbricht, Zahnärztliche Praxisgemeinschaft in der Kölner „Klinik am Ring“, befragt.

Frau Herbricht, was ist, einmal abgesehen von ästhetischen Gesichtspunkten, so gravierend an einer Kiefergelenkfehlstellung?

Zunächst muss man wissen, dass sich das Kiefergelenk aus unterschiedlichsten Gründen absenken kann und also immer tiefer an die Schädelbasis gelangt. Dabei baut sich ein Druck auf, bei dem nur unter anderem Nerven und Blutbahnen eingeklemmt werden. Wenn nun das Kiefergelenk und das übrige System nicht in Harmonie zueinander stehen, kann es zu verschiedenen schmerzhaften Symptomen kommen: neben Zahnschmerzen und Schmerzen im Kiefergelenk oder bei der Unterkieferbewegung auch zu Kopfschmerzen, Ohrenschmerzen, Ohrensausen (Tinnitus), dem sog. Barotrauma (also Schwierigkeiten beim Druckausgleich in den Ohren z.B. im Flugzeug oder beim Tauchen), zu Gesichtsschmerz, Schmerzen im Hals-, Schulter-, Rücken- sowie Brustbereich.

Worauf gründet ein solcher Erkrankungsmechanismus und was hat der Zahnarzt damit zu tun?

Zwischen dem cranio-sakralen System, kurz: CSS, seiner Muskulatur und der Funktion des Kiefergelenks besteht ein enger Zusammenhang. Deshalb ist hier insbesondere auch aus zahnärztlicher Sicht eine Ganzheitsmedizin gefordert. – Im knöchernen Cranium also gibt es Bestandteile, die sozusagen in das Ressort des Zahnarztes fallen, nämlich die beiden Kiefergelenke. Über deren intakten Zustand bestimmt dabei in zentraler Weise die sog. Okklusion der Zahnreihen, also das Zusammenspiel von Ober- und Unterkiefer, welche eine anatomische und funktionelle Einheit bilden. Eingriffe an den Zahnreihen können also niemals unabhängig vom Zustand der Kiefergelenke gesehen werden. Damit aber stehen wiederum die okklusale Situation und der craniale Rhythmus in einem engen Wechselbezug zueinander. Konkret gesprochen: Eine dauernde Fehlhaltung des Kopfes z.B. kann zu einem schlechten Biss führen. Und umgekehrt: Wird durch eine zahnärztliche Maßnahme die Okklusion beeinträchtigt, dann kann es in der Folge u.U. etwa zu einem Beckenschiefstand und einer funktionellen Beinlängendifferenz kommen. Fest sitzende „Zahnspangen“ im sich entwickelnden kindlichen Gebiss etwa können möglicherweise nicht nur Zahnschmerzen und Kiefergelenkprobleme hervorrufen, sondern auch Muskelverspannungen.

Was ist unter dem cranio-sakralen System genau zu verstehen?

Zur Erklärung muss etwas weiter ausgeholt werden. Von einem System sprechen wir deshalb, weil unser Schädel (Cranio) bzw. die Bewegungen seiner einzelnen Teile sich durch den Wirbelkanal bis zum Kreuzbein (Os sacrium) hin fortsetzen. – Früher nahm man an, der Schädel sei eine Art „knöcherner Stahlhelm“, der lediglich dazu diene, die da­runterliegenden Hirnanteile zu schützen. Heute weiß man, dass es sich bei den knöchernen Strukturen des Schädels um ein schwingungsfähiges Element im Organismus handelt. Der Schädel selbst nämlich ist aus einem sehr komplexen Gefüge zahlreicher Schädelknochen aufgebaut. Diese bilden ein dreidimensional ineinandergreifendes Räderwerk, wobei sich ein jeder Schädelknochen in allen drei Ebenen jeweils in zwei Richtungen (hin und her, vor und zurück, von medial nach lateral), also in sechs Richtungen bewegt. Dabei „pendeln“ die Schädelknochen insgesamt in einer Art „Atembewegung“ – man spricht hierbei auch von der sog. „Schädelatmung“. D.h. sie bewegen sich rhythmisch, zwischen Verkürzung, Ausdehnung, Verlängerung und Verschmälerung während eines bestimmten Zeitraums abwechselnd, ohne dass sich das Volumen des Schädels hierbei quantitativ verändern würde. Nicht nur kann dieser Bewegungsrhythmus pathologisch verändert, also erhöht oder vermindert sein, auch einzelne Schädelknochen können derart verklemmt oder verschoben sein, dass ihre Beweglichkeit und damit die des gesamten Systems eingeschränkt ist.

Wie lassen sich solche Fehlfunktionen im CSS bzw. Kiefergelenk feststellen?

Die zentrale Basis der Diagnose geben hier zunächst Röntgenbilder und Abformungen sowie eine manuelle Funktionsdiagnostik ab, also Untersuchungen ähnlich einer kieferorthopädischen Vermessung. Die Modelle werden dann im sog. Artikulator, einem dreidimensional verstellbaren Gerät, derart übereinander gestellt, dass eine Körpersymmetrie gegeben ist. Dabei bedient man sich vorwiegend knöcherner Orientierungspunkte – die Zähne werden nahezu außer Acht gelassen. Fixiert wird das Ganze durch Wachsquetschbisse. Anschließend untersuchen wir das Kiefergelenk, den Rücken, das Becken und die Beinbeweglichkeit in Abhängigkeit voneinander. Nach dem Einsetzen des Wachsquetschbisses wird erneut – mit Hilfe der kinesiologischen Tests – die Kiefergelenkslage sowie Körpersymmetrie überprüft. Von zentraler Bedeutung ist dabei, ob der Patient den willkürlich im Artikulator eingestellten Biss auch findet und inwiefern sich dieser positiv auf seine Kiefergelenkslage, seine Rücken- und Hüftbeweglichkeit, ggf. auf funktionelle Beinlängenunterschiede sowie die Körpergesamtspannung auswirkt.
Sofern bei der Testung dieser Parameter hinsichtlich der Bisslage überwiegend positive Ergebnisse erzielt werden, wird eine entsprechende Unterkiefer-Aufbissschiene aus klarem Kunststoff hergestellt, eine nach ihrem Entwickler so genannte Gelb-Schiene. Diese sollte vom Patienten immer, d.h. während 24 Stunden getragen werden. Die Schiene wird durch einen Metallbügel mit den unteren Schneidezähnen verbunden, was dem Träger ein artikuliertes, unbeeinträchtigtes Sprechen ermöglichen soll.

Und damit lassen sich sämtliche Fehlfunktionen beheben?

Die Schiene ist als ein „Krückstock auf Zeit“ anzusehen. Mit Hilfe des Aufbissbehelfs ist es möglich, das unkoordiniert arbeitende Kauorgan (zunächst) ohne Korrekturen an der natürlichen Bezahnung zu stabilisieren. Sie soll etwa drei Monate lang getragen werden. Begleitend zur Schienentherapie werden physiotherapeutische Maß­­nahmen als Kombination von cranio-sakraler Osteopathie und manueller Therapie durchgeführt. Es erfolgt dabei mittels einer speziellen Fingertechnik eine sanfte Manipulation und Stellungskorrektur der entsprechenden Schädelknochen. Wenn sich mit dem neu konstruierten Biss der Muskeldruckschmerz verändert, wenn sich die Rücken- und Hüftbeweglichkeit verbessert und die Ganzkörperspannung nachlässt und wenn sich unter der Behandlung der Zustand des Patienten stabilisiert, so fangen wir an, uns aus der Schienentherapie „auszuschleichen“: Der Patient wird stundenweise und – bei dauerhaftem Therapieerfolg – schließlich ganz der Schiene entwöhnt.

Durch diesen therapeutischen Ansatz wird der Verantwortungsbereich des Zahnarztes ja erheblich erweitert?

Durch ein ganzheitlich orientiertes Vorgehen wird es aber eben möglich, anstatt nur oberflächlich Symptome zu behandeln, auf die grundlegenden Probleme positiv einzuwirken. Und andererseits lassen sich dadurch negative Auswirkungen auf das Gesamtsystem – durch entsprechende Maßnahmen an den Zähnen – vermeiden. Deshalb behandeln wir auch beim Zahnersatz immer kiefergelenksbezogen.

Frau Herbricht, herzlichen Dank für Ihre Ausführungen!

Ein Archivbeitrag* aus ORTHOpress 2 | 2000

*Archivbeiträge spiegeln den Stand zur Zeit der Erstveröffentlichung wieder. Die aktuelle Einschätzung des Sachverhalts kann durch Erfahrungszuwachs, allgemeinen Fortschritt und zwischenzeitlich gewonnene Erkenntnisse abweichen.