Moderne Wirbelsäulentherapie mittels Kryoanalgesie
Rückenschmerzen sind heute mit großem Abstand Volksleiden Nummer Eins: Bei fast jedem Menschen treten sie im Laufe seines Lebens auf und bei nicht wenigen führen sie zu dauernden Beschwerden, Arbeitsunfähigkeit und einer drastischen Einbuße an Lebensqualität.
Aber nicht alle Schmerzen an der Wirbelsäule haben die gleiche Ursache und nicht alle werden auf die gleiche Art und Weise behandelt.
Generell unterscheidet man dabei zwischen mehreren Indikationen. Beim so genannten „Facettensyndrom“ liegen Verschleißerscheinungen der kleinen Wirbelgelenke vor. Diese sind meist durch die Höhenminderung des Zwischenwirbelraums als Folge von Bandscheibenschäden oder auch nach einer bereits erfolgten Bandscheibenoperation bedingt. Dabei drängen die Gelenkflächen der Wirbelbogengelenke (Facetten) schmerzhaft ineinander und führen so zur Reizung einzelner Nervenfasern. Im Gegensatz zu einer Reizung der Nervenwurzel handelt es sich hier meist nicht um einen ausstrahlenden Schmerz, sondern im Allgemeinen um eng begrenzte, regional auftretende Beschwerden. „Beim Facettensyndrom hat sich daher die Behandlung der einzelnen Nervenfaser mittels einer etwa –60 °C kalten Sonde bewährt, welche direkt und ohne Beeinträchtigung anderer Nerven unter Röntgenkontrolle an die schmerzende Stelle herangeführt werden kann“, erläutert der Orthopäde Dr. Werner Steinleitner aus dem pfälzischen Kandel, der zusammen mit seinem Kollegen Dr. Blecher eine schmerztherapeutische Praxis betreibt. Durch dieses als „Kryoanalgesie“ bezeichnete Verfahren kann der schmerzende Nerv buchstäblich „kaltgestellt“ werden, und zwar ohne ihn – wie bei anderen Verfahren – für immer auszuschalten.
„Dieses Verfahren gilt heute als wesentlich schonender als die Nervverödung durch Laserstrahlen oder Strom“, erläutert Dr. Steinleitner. Während es bei der Koagulation einzelner Nervenfasern durch Hitzeeinwirkung im Einzelfall zu schmerzhaften und unkontrollierbaren Nervenaussprossungen kommen kann, besteht diese Möglichkeit bei der Kältesonde nicht. Überdies gilt der Einsatz der Kryoanalgesie als besonders sicher: Beim Einführen der Sonde soll der Patient in etwa den Schmerz erleben, der mit dieser Behandlungsmethode therapiert werden soll. Der Eingriff wird daher auch nicht in Vollnarkose durchgeführt, denn diese Rückmeldungen des Patienten sind während der Behandlung für den Arzt sehr wichtig – er muss genau wissen, ob er sich mit der Kältesonde an der richtigen Stelle befindet.
Ist die Ursache der Schmerzen allerdings in einer der direkt vom Rückenmark abgehenden Nervenwurzeln begründet (z.B. bei einem Bandscheibenvorfall, aber auch durch Vernarbungen innerhalb des Epiduralraums, wie sie z.B. nach einer Bandscheibenoperation auftreten können), dann kann die Kältetherapie aus verständlichen Gründen nicht eingesetzt werden. Dr. Steinleitner: „Wenn es um die Desensibilisierung einzelner Nervenfasern geht, dann ist die Kryoanalgesie sicherlich das Mittel der Wahl. Bei fortgeleiteten Schmerzen setzt man sie jedoch nicht ein, denn man will ja nicht die gesamte Nervenwurzel ausschalten.“
Bei einer solchen Reizung der Nervenwurzel tritt zumeist ja auch noch eine mehr oder weniger starke mechanische Nervenkompression hinzu, wie z.B. beim akuten Bandscheibenvorfall, wenn der vorgefallene Faserring der Bandscheibe direkt auf den Nerv drückt: Hier kommt in vielen Fällen eine Behandlung mit dem sog. Epiduralen Katheterverfahren nach Prof. Racz in Betracht. Dabei wird ein Katheter in den Epiduralraum gelegt, über den im Abstand von 24 Stunden eine Kombination aus einem Kortison-Präparat, Enzymen und einer Kochsalzlösung eingespült wird. Dadurch erfolgt nicht nur eine Beruhigung des bedrängten Nervs, sondern es wird durch die Kochsalzlösung auch eine Schrumpfung des Bandscheibengewebes bewirkt, wodurch eine mechanische Druckentlastung eintritt. Auch erlaubt die Spitze des flexiblen Katheters in gewissem Umfang Verwachsungen und Vernarbungen im Bereich der schmerzenden Wirbelsäulenetage mechanisch zu lösen. Die Folge ist eine weit gehende Schmerzfreiheit des Patienten bereits nach der ersten Einspülung, ohne den Wundschmerz der so genannten „offenen“ Operation. Auch ist im Gegensatz zu einer Operation nach dem Katheterverfahren keine gesonderte Reha-Behandlung erforderlich; es sollte auch für etwa drei Wochen auf Massagen oder Wärmebehandlungen verzichtet werden. Danach kann dann zur Sicherung des Therapieerfolgs mit einer gezielten krankengymnastischen Beübung begonnen werden.
In den meisten Fällen könne heute so glücklicherweise auf eine Operation verzichtet werden, erläutert Dr. Blecher. Dies sei insbesondere im Hinblick auf die schnelle Wiedereingliederung des Patienten in den Arbeitsprozess von entscheidender Bedeutung.
Ein Archivbeitrag* aus ORTHOpress 3 | 2001
*Archivbeiträge spiegeln den Stand zur Zeit der Erstveröffentlichung wieder. Die aktuelle Einschätzung des Sachverhalts kann durch Erfahrungszuwachs, allgemeinen Fortschritt und zwischenzeitlich gewonnene Erkenntnisse abweichen.