Bandscheibenvorfall der Halswirbelsäule
Der „klassische“ L5/S1-Bandscheibenvorfall tritt rund hundertmal öfter auf als sein Pendant an Hals- oder Brustwirbelsäule. Glücklicherweise, denn: Die Halswirbelsäule gilt gemeinhin als langwierig und schlecht zu therapieren. Dies liegt hauptsächlich daran, dass unsere Halswirbel „mobiler“ sind als die Lendenwirbel und daher schlecht zu kontrollierenden abrupten Bewegungen ausgesetzt sind. Zwar kann man die Halswirbelsäule nach Schleudertraumata oder sonstigen Verletzungen durch eine Cervikalstütze fixieren, für eine langfristige Therapie ist dies jedoch wegen der hohen Einschränkung der Beweglichkeit und damit des Alltagskomforts kaum geeignet. Operative Eingriffe sind weder bei Patienten, noch bei Ärzten beliebt. Zum einen verjüngt sich die menschliche Wirbelsäule zum oberen Ende hin, was den erforderlichen Raum für die zum Eingriff benötigten Instrumente stark begrenzt. Zum anderen besteht eine große Nähe der Bandscheiben und Wirbelkörper zur Halsschlagader und zum Sympathicus-Nerv, was einen Eingriff potenziell schwieriger und auch risikoreicher macht als an der Lendenwirbelsäule.
Was kann man also beim so genannten „hohen“ Bandscheibenvorfall tun? In Berlin sprach Orthopress mit den Orthopäden Dr. Roggenbuck und Dr. Buntin.
Herr Dr. Roggenbuck, wie beurteilen Sie die Aussichten für den Patienten nach einer Operation an der Halswirbelsäule?
Dr. Roggenbuck: Die offene Operation an der Halswirbelsäule wird heute nur noch sehr ungern durchgeführt. Man versucht daher gerade bei HWS-Bandscheibenvorfällen, alle zur Verfügung stehenden konservativen Behandlungsmöglichkeiten auszuschöpfen. Gerade dies führt aber oft zu jahrelangen Leidensgeschichten, weil sich insbesondere die Patienten von den unabsehbaren Ergebnissen früherer Operationsmethoden abgeschreckt fühlen.
Aber wie sehen die Alternativen aus, wenn einmal „das Kind in den Brunnen gefallen“ ist?
Dr. Buntin: Wir gehen heute davon aus, dass sich gerade in diesem Bereich minimalinvasive Techniken langfristig durchsetzen werden. Beim Bandscheibenvorfall an der Halswirbelsäule besteht tatsächlich oft besonders dringender Handlungsbedarf, denn er kann sich in einer Vielzahl besonders unangenehmer Symptome äußern. Während der Schmerz eines akuten Bandscheibenvorfalls an der Lendenwirbelsäule dem Patienten heute in der Regel schnell genommen werden kann, sieht dies an der Halswirbelsäule leider oft anders aus. Nicht nur strahlen die Schmerzen häufig in Brust und Kopf aus, auch Gleichgewichtssinn und Hörvermögen können hiervon erheblich beeinträchtigt werden.
Die neuen „minimalinvasiven“ Techniken sind ja in der jüngsten Vergangenheit des Öfteren diskutiert worden. Was hat man sich darunter vorzustellen?
Dr. Roggenbuck: Unter „minimalinvasiv“ versteht man Behandlungsmethoden, die Wirbelsäule und umliegendes Gewebe kaum traumatisieren und daher für den Patienten besonders schonend sind, zum Beispiel den vom amerikanischen Schmerztherapeuten Prof. Gabor Racz entwickelten Wirbelsäulenkatheter: Dabei führt der Arzt einen dünnen, extrem biegsamen Katheter in den Wirbelkanal ein, wobei die exakte Lage des Katheters ständig per Bildwandler kontrolliert wird. Über diesen Katheter wird dann eine Enzymlösung injiziert, welche der betroffenen Bandscheibe Flüssigkeit entzieht. Dadurch schrumpft diese an der gewünschten Stelle so, dass der Druck auf den Nerv verringert wird – die Beschwerden des Patienten verschwinden meist sofort. Der einmal gelegte Katheter verbleibt noch 2–4 Tage an der gleichen Stelle, so dass die Injektionen noch mehrfach wiederholt werden können. Danach kann der Patient entlassen werden; nach weiteren zwei Wochen kann er sogar wieder Sport treiben.
Aber wo liegen die Vorteile für den Patienten gegenüber der „offenen“ Operation? Sind die Erfolge des Katheterverfahrens überhaupt vergleichbar?
Dr. Buntin: Bei einer offenen Wirbelsäulen-OP müsste der Patient Wochen und Monate warten, bis die Operationswunde verheilt und der Behandlungserfolg eingetreten ist – wenn er denn überhaupt eintritt. Denn die Aussichten, nach einer Wirbelsäulen-OP ein Leben „wie früher” wieder aufnehmen zu können, sind je nach Schwere des Eingriffs verschieden. Der Vorteil des Katheterverfahrens liegt nicht nur in der vergleichsweise hohen Erfolgsquote, sondern auch und in der geringen physischen Belastung durch den Eingriff selbst. Insbesondere für ältere Patienten kommt auf Grund bestehender Vorerkrankungen (Koronare Herzkrankheit, allgemeine Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Durchblutungs- und Stoffwechselstörungen) eine offene OP unter Vollnarkose auf Grund des erhöhten Operationsrisikos nicht in Betracht. Mit dem Katheterverfahren hingegen kann selbst Risikopatienten effektiv geholfen werden, die in der Vergangenheit auf die Verabfolgung hochdosierter Schmerzmittel angewiesen waren.
Wie sieht es mit den Langzeiterfolgen aus? Was ist, wenn nach zwei oder drei Jahren die Beschwerden erneut auftreten?
Dr. Roggenbuck: Wir sind heute sehr froh darüber, dass uns mit dem Epiduralkatheter eine so risikoarme und Erfolg versprechende Therapiemethode zur Verfügung steht. In über zwei Dritteln aller Fälle kann dem Patienten so ohne Operation effektiv geholfen werden. Postoperative Komplikationen wie Narbenbildung und Verwachsungen gehören damit der Vergangenheit an. Sollte es einmal nötig sein, kann die Behandlung nach Monaten oder Jahren beinahe beliebig wiederholt werden – bei einer offenen Operation ist dies undenkbar.
Die klassische Wirbelsäulenoperation erfordert meist eine lange krankengymnastische Nachbehandlung. Kann dieser Prozess mit den minimalinvasiven Techniken abgekürzt werden?
Dr. Buntin: Wie bei allen Wirbelsäulenleiden darf trotz der zuversichtlich stimmenden Entwicklungen der Medizin nicht vergessen werden, dass Vorbeugen besser als Heilen ist. Auch für die Halswirbelsäule gilt: Eine rechtzeitige Kräftigung der Muskeln, Bänder und Sehnen hilft im Vorfeld, den Bandscheibenvorfall zu vermeiden. Wer ständig Lasten auf Schulter und Kopf tragen muss (und dazu zählt nicht nur die Schweinehälfte auf der Schulter des Fleischers, sondern genauso der Helm auf dem Kopf des Motorradfahrers!), der sollte in seiner Freizeit für einen entsprechenden Ausgleich sorgen. Und das nach einer bereits erfolgten Therapie umso mehr: Selbst eine erfolgreiche Katheterbehandlung kann einen dauerhaften Erfolg nur mit der aktiven Mithilfe des Patienten erzielen.
Herr Dr. Roggenbuck, Herr Dr. Buntin, haben Sie herzlichen Dank für das Gespräch.
ORTHOpress 4 | 2000