Etwa acht Millionen Deutsche leiden an Gelenkverschleiß oder Arthrose. Bei den über 45-Jährigen ist bereits die Hälfte betroffen, bei den über 75-Jährigen ist der Prozentsatz noch höher. Obwohl der Begriff häufig überstrapaziert wird, kann der Knorpelverlust in unseren Gelenken als echte „Volkskrankheit“ bezeichnet werden – in der volkswirtschaftlichen Bedeutung noch vor den Herz-Kreislauf-Krankheiten. Aber woran liegt dies? Die Antwort ist einfach: Trotz vielfältiger Bemühungen der medizinischen Forschung ist es bislang immer noch nicht möglich, den einmal verschlissenen Gelenkknorpel wieder nachwachsen zu lassen. Ist jedoch der degenerative Prozess erst einmal in Gang geraten, so wird er schnell zu einem Teufelskreis: Durch die fortschreitende Entzündung im Gelenk kommt es unter zunehmenden Schmerzen zu immer schnellerem Knorpelabbau. Am Ende einer solchen Entwicklung stehen Schmerzen, Immobilität und Gelenkprothese.
Die Frage, die sich Mediziner und Pharmazeuten gleichermaßen stellen, lautet daher: Wie kann dem Knorpelschwund und Entzündungsprozess wirksam Einhalt geboten werden, ohne zugleich durch die Fülle der Nebenwirkungen einer Therapie dem Patienten im Endeffekt eher zu schaden, als zu nutzen?
Orthokintherapie weckt Hoffnung
Hoffnung weckt jetzt seit etwa zwei Jahren eine neuartige Therapie: Ein aus dem Eigenblut der Patienten gewonnenes körpereigenes Eiweiß, der so genannte Interleukin 1-Rezeptorantagonist (Orthokin), soll die Knorpelzerstörung im Gelenk stoppen. Wie das funktioniert, erklärt Dr. Peter Schäferhoff, Orthopäde und Sportmediziner in der Kölner MediaPark-Klinik: „Bei der Therapie mit Orthokin wird dem Patienten mit einer speziellen Spritze Blut entnommen. Durch die besondere Beschichtung der Innenfläche der Spritze werden nun die weißen Blutkörperchen angeregt, bestimmte Hemmstoffe des Immunsystems (z.B. Anti-Interleukin-1) zu produzieren. Dieser Prozess setzt ein, noch während das Blut in einem Spezialcontainer zum Labor transportiert wird. Innerhalb weniger Stunden entsteht so ein etwa 100facher Überschuss des Anti-IL-1. Im Labor werden diese Hemmstoffe von den Blutzellen isoliert. Anschließend wird die so gewonnene Injektionslösung aufgeteilt und in Portionen zu 2 ml tiefgefroren. Der Patient erhält dann die Injektionen in das betroffene Gelenk.“
Die Verabreichung erfolgt zunächst in wöchentlichen Abständen
Zunächst erhält der Patient drei Gaben des aufbereiteten Serums in wöchentlichen Abständen. Je nach Besserung der Beschwerden und Zunahme der Beweglichkeit wird das Behandlungsintervall dann auf drei bis vier Wochen ausgedehnt. Etwa drei Wochen nach der ersten Injektion tritt bei 50-80% der Behandelten eine dauerhafte Beschwerdebesserung ein. In einer kontrollierten Rheumastudie in den USA wurde nach 3 Monaten eine Erfolgsquote von ca. 75% beobachtet.
Das Ziel ist die langfristige Bekämpfung der Entzündung
Aber was passiert überhaupt im Gelenk, und warum kann Orthokin den Knorpelabbau bekämpfen? Dr. Schäferhoff: „Der Interleukin-Rezeptorantagonist IL-RA ist natürlicher Gegenspieler des in der Gelenkinnenhaut produzierten Immunstoffs Interleukin-1 (IL-1), der sowohl Entzündungen fördert als auch die Knorpelzerstörung hervorruft. Beim gesunden Menschen sind diese so genannten Zytokine und ihre Gegenspieler („Antagonisten“) jeweils in einer solchen Konzentration vorhanden, dass keine Knorpelschädigung einsetzt. Wird dann aber durch Unterernährung des Knorpels, mangelnde Bewegung oder auch durch Unfall eine Knorpelschädigung in Gang gesetzt, gewinnen schnell die Entzündungsmediatoren die Überhand.“ Ist dieser Prozess erst einmal in vollem Gange, sind schnell unerträgliche Schmerzen, Schwellungen und Bewegungseinschränkungen die Folge.
Das Ausmaß der Knorpelschädigung ist wichtig
Natürlich kann auch die Therapie mit Interleukin-Rezeptorantagonisten keine Wunder bewirken. Wichtig ist daher, vor einer Behandlung das Ausmaß der Knorpelschädigung zu bestimmen. Dazu reicht ein Röntgenbild in aller Regel nicht aus. Üblicherweise wird daher eine Kernspinaufnahme gemacht und/oder eine Gelenkspiegelung vorgenommen. Dabei sind es durchaus nicht nur Patienten mittleren Alters, bei denen eine entzündliche Veränderung festgestellt werden kann. „Zwar sind die meisten Patienten zwischen 50 und 60 Jahren, aber es gibt durchaus auch 30-Jährige, die für eine prothetische Versorgung auf Grund der begrenzten Lebensdauer heutiger Implantate noch viel zu jung sind“, erläutert Dr. Schäferhoff. Grundsätzlich sollte für eine erfolgreiche Behandlung mit Orthokin jedoch noch Knorpelmasse vorhanden sein, denn die entzündlichen Prozesse können zwar zurückgedrängt, der Knorpelverlust aber nicht mehr rückgängig gemacht werden. Typische Indikation für ein Krankheitsstadium, bei welchem eine Therapie sinnvoll erscheint, sind mittelgradige Knorpelveränderungen und auch die „Chondropathia patellae“, bei welcher eine Knorpelerweichung unter der Kniescheibe beim Treppensteigen und längerem Sitzen Beschwerden verursacht.
Kombination mit anderen Verfahren ist möglich
Sind die Schäden im Gelenk bereits weiter fortgeschritten, so kann auch darüber nachgedacht werden, ob nicht eine Kombination mit anderen Verfahren sinnvoll ist: So können bei einer so genannten „arthroskopischen Gelenktoilette“ die Knorpeloberfläche geglättet und kleinere Meniskuseinrisse beseitigt werden. Bei etwa 20 Prozent der von ihm bisher mit Orthokin behandelten Patienten hat Dr. Schäferhoff diese Operation vorgenommen. Allerdings sollte nach einem solchen Eingriff erst drei bis vier Wochen postoperativ mit einer ergänzenden Orthokin-Behandlung begonnen werden. Auch kann bei starker einseitiger Knorpelabnutzung eine Umstellungsosteotomie indiziert sein, bei welcher die Belastung des Gelenks reduziert und so eine weitere schnelle Zunahme der arthrotischen Veränderungen verhindert wird.
Gegenanzeigen für die Therapie sind lediglich zu starke Vorschädigungen. Bei akuten und starken Schwellungen im Gelenk muss zunächst eine Punktion vorgenommen und die Reizung des Gelenks beseitigt werden. Allergische Reaktionen auf Orthokin sind nicht bekannt; schließlich handelt es sich um ein „individuelles“ Präparat, welches ja aus dem Blut eines jeden Patienten für ihn selbst gewonnen wird.
Nachbehandlung ist unerlässlich
Insbesondere beim kombinierten Einsatz mit anderen Verfahren ist eine Nachsorge unerlässlich. Dr. Schäferhoff betont, dass eine entsprechende Physiotherapie wichtig ist, um die Mobilität und Schmerzfreiheit über einen langen Zeitraum hinweg zu gewährleisten: „Auch die beste Therapie ist nur so erfolgreich, wie es die Mithilfe des Patienten erlaubt. Besonders bei Gelenkerkrankungen ist es wichtig, gegen das „Einrosten“ zu arbeiten und sich selbst die Beweglichkeit durch ständiges Training zu erhalten.“
aus ORTHOpress 2 | 2002
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