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Rücken

Wenn Schmerzpatienten „unter Strom stehen“

Mann geht es wieder gut

Behandlung chronischer Schmerzen durch Rückenmarkstimulation

Die „Heils-Geschichte“ des Stromes hat weit zurückliegende Wurzeln: Schon in der Literatur der alten Griechen ist der therapeutische Effekt der elektrischen Stimulation erwähnt. Und der römische Schriftsteller Scribonius Largus berichtet 47 n. Chr. über einen Mann, der am Strand von Ostia mit einem Zitterrochen in Berührung kam und dadurch von seinen Gelenkschmerzen, heftigen arthritischen Knieschmerzen, befreit wurde. Auch von dem berühmten Arzt Galen ist bekannt, dass er die „elektrischen Fische“ zur Schmerztherapie benutzte. Im Mittelalter und auch in der Folge finden sich Berichte und Empfehlungen für die Anwendung der elektrischen Reize und elektrischen Akupunktur zur Schmerzlinderung. In der Neuzeit dann konnten diese noch singulären Erfahrungen weiter ausgebaut und systematisiert werden. Denn schon kurz nach 1745, mit der Entwicklung von „Speichern“ für Elektrizität, wurde diese nun ganz gezielt zur Schmerzbehandlung eingesetzt. Dass damit der Behandlung durch Strom der Weg geebnet war, sozusagen den Rang einer Disziplin einzunehmen, zeigt nicht zuletzt der 1785 erschienene Band „Medizinische Elektrizität“ von Wilhelm van Barneveld.

Wie in so vielen Bereichen auch, hat das, was sich in der Geschichte über Jahrhunderte hinweg ausgeprägt hat, in unserer Gegenwart eine rasante Entwicklung genommen. Auf der Basis weiterer Erkenntnisse, hier der Einsichten über die neurophysiologischen Zusammenhänge der Schmerzentstehung und -weiterleitung, konnten moderne Behandlungsmethoden der Elektrostimulation, Hightech programmierbare Elektrodensysteme gegen Schmerzen entwickelt werden. So steht Ärzten und Patienten seit Anfang der 70er-Jahre mit einer speziellen Rückenmarkstimulation, der sog. Spinal Cord Stimulation, kurz: SCS, eine wirksame und – im Unterschied zur analgetischen Therapie – nicht abhängig machende Methode der Schmerzbehandlung zur Verfügung.

Schmerzen hat ein jeder von uns schon einmal erfahren. Vereinfacht ausgedrückt handelt es sich bei einer jeden Schmerzempfindung normalerweise um einen elektrischen Impuls, der ausgehend von der Schmerzquelle bzw. -ursache über spezielle Nervenfasern des Rückenmarks in bestimmte Areale des Gehirns als Nachricht weitergeleitet wird. Kommt es aber – aus verschiedenen Gründen – zu einer Störung dieses Informationssystems, so hält die Schmerzbotschaft auch ohne akuten Auslöser an: Es stellen sich chronische Schmerzen mit häufig brennendem Charakter ein, die ganztägig andauern, oder intermittierende, nur durch bestimmte Intervalle unterbrochene intensive Schmerzen, die ebenfalls die Lebensqualität deutlich einschränken. Die bekanntesten Ursachen für diesen Daueralarm im peripheren und zentralen Nervensystem sind Nervenverletzungen, er kann aber auch beim sog. Morbus Sudek und bei einigen Formen der Polyneuropathie ausgelöst werden und zudem Folge mehrfacher Operationen an der Wirbelsäule sein, nicht selten wegen der dabei nach wie vor unbeeinflussbaren Narbenentwicklung.

Wirkweise der SCS und Indikation

Das Verfahren der Rückenmarkstimulation nun greift in diese Zusammenhänge ein. Es ist in der Lage – mit Hilfe leichter elektrischer Ströme – die Leitung eines Schmerzsignals an das Gehirn zu stören, d.h. die „Schmerzströme“ derart zu modulieren, zu ändern oder zu unterbrechen, dass die Patienten an Stelle der Schmerzen ein angenehmes Kribbelgefühl verspüren. „Die Nervenstimulation durch SCS ist nicht selten die einzige Hoffnung zur Behandlung chronischer Schmerzen“, weiß der Berliner Neurochirurg Dr. med. Munther haj Ahmad aus Erfahrung zu berichten. „Es handelt sich dabei um eine wirksame, nicht destruierende, reversible Methode gegen die Schmerzen. Insbesondere bei chronischen Schmerzen auf Grund therapieresistenter Verschleißstörungen der Wirbelsäule stellt die SCS eine gute Alternative gegenüber einer langjährigen Einnahme von starken Schmerzmitteln dar“, kommentiert Dr. haj Ahmad die Indikation der Methode. Ist es z.B. nach mehrfacher Operation an der Wirbelsäule zu keiner Besserung gekommen und würde als letzter Ausweg ansonsten nur eine Therapie mit Opioiden gegen die quälenden Schmerzen bleiben, dann könnte die SCS die Implantation einer Morphin-Pumpe vermeiden. Auch bei Schmerzen nach Nervenverletzungen, nach Amputation (Phantom- oder Stumpfschmerz) und bei Ruheschmerzen bei vorliegender Arterieller Verschlusskrankheit kann die Rückenmarkstimulation zum Einsatz kommen. Insgesamt gelten folgende Kriterien, die über die Auswahl dieser Therapie entscheiden: Die konservative Therapie hat keinen ausreichenden Erfolg erbracht, es besteht keine Möglichkeit (mehr) für eine kausale Behandlung, es liegen weder eine primäre psychische Erkrankung noch eine Medikamentenabhängigkeit vor.

Der Eingriff

Zunächst werden unter ambulanten Bedingungen feine Elektroden rückenmarksnah gelegt. Dies geschieht in Zusammenarbeit von Arzt und Patient während des Eingriffs. Die Position der Elektroden nämlich ist beim SCS von größter Bedeutung. Ziel dabei ist es, die Elektrode so zu platzieren, dass der Patient dort ein Kribbeln verspürt, wo er zuvor Schmerzen empfunden hat. Die Elektrode wird vorsichtig im Epiduralraum oder im Bereich zwischen Wirbelknochen und Rückenmark positioniert und an einen temporären Nervenschrittmacher angeschlossen. Derart werden über die Elektroden leichte programmierte elektrische Ströme geleitet, die von der externen Quelle impulsiert werden. Der Patient gibt an, wo die Stimulation zu spüren ist. Eventuell muss der Arzt die Position der Elektrode anpassen, um eine optimale Stimulation des richtigen Körperbereichs zu erzielen. Bei entsprechender Stimulation spüren die Patienten ein angenehmes Kribbelgefühl, das die Schmerzen hemmt bzw. unterdrückt. Die Stromimpulse fungieren hier also sozusagen als „Störsender“, mit dem die Schmerzreize quasi „übertönt“ werden. Vor endgültiger Implantation des Rückenmark-Stimulationssystems wird ein Stimualtionstest durchgeführt, um sicherzustellen, dass die SCS den Schmerz wirklich vermindert, und auch um eventuelle Nebenwirkungen der Methode beurteilen zu können. Nach erfolgreicher Teststimulations-Periode, die etwa ein bis zwei Wochen in Anspruch nimmt, erfolgt die endgültige Implantation eines permanenten Nervenschrittmachers unter der Haut. Je nach System wird der „Schrittmacher“ dabei entweder vollimplantiert oder es wird nur ein Empfänger in einer Hauttasche implantiert, so dass ein externer Sender als Nervenschrittmacher fungiert.

In der ersten Zeit nach der Implantation des Systems sollten die Aktivitäten etwas eingeschränkt werden. So dürfen, bis sich das System stabilisiert hat, keine plötzlichen Bewegungen durchgeführt werden. Während der ersten Wochen kann sich die Stimulation verändern. Gegebenenfalls muss dann die Stimulation mit einem Programmiergerät oder Sender neu eingestellt werden.

Die Ergebnisse

Dr. haj Ahmad fasst die mit dem Verfahren der Rückenmarkstimulation zu erzielenden Ergebnisse zusammen: „Die SCS ist zwar kein Heilmittel für die Schmerzursache, doch sie ist in der Lage, Schmerzen zu lindern, die Medikamenteneinnahme zu reduzieren und dadurch die Lebensqualität zu bessern. Viele sind bereits beschwerdefrei geworden, bei einigen Patienten reduziert sich der Schmerz auf 50–70%. Die Komplikationsrate ist gering. Zudem hat sich SCS in Studien als eine kostengünstige Therapie erwiesen und wird nicht zuletzt von den privaten wie gesetzlichen Krankenkassen übernommen.“

Ein Archivbeitrag* aus ORTHOpress 1 | 2000
*Archivbeiträge spiegeln den Stand zur Zeit der Erstveröffentlichung wieder. Die aktuelle Einschätzung des Sachverhalts kann durch Erfahrungszuwachs, allgemeinen Fortschritt und zwischenzeitlich gewonnene Erkenntnisse abweichen.