Rückenmarkstimulation lindert chronische Schmerzen
Schmerzen sind ein lebens- und überlebensnotwendiges Signal des Körpers, das uns als Alarm vor Gefahren und größeren Schäden bewahren soll. Es kommt aber — leider gar nicht so selten — vor, dass sich dieses Alarmsignal verselbstständigt, seine Warnfunktion verliert und selber zu einer Krankheit wird: Chronischer Schmerz entsteht, unter dem in Deutschland etwa fünf Millionen Menschen leiden. Man schätzt, dass etwa ein Fünftel von ihnen nur sehr schwer zu behandeln ist.
Chronische Schmerzen werden meist als brennend, glühend, stechend, zerreißend oder elektrisierend beschrieben. Sie können den ganzen Tag anhalten oder auch anfallsweise — wie ein Blitz aus heiterem Himmel — die Patienten überfallen. Meist werden sie als äußerst quälend erlebt und schränken die Lebensqualität der Betroffenen erheblich ein. Besonders leidvoll wird für die von chronischen Schmerzen Geplagten die Situation, wenn ihnen mitgeteilt wird, dass eine ursächliche Behandlung nicht mehr möglich und die therapeutischen Mittel ausgereizt seien.
„Leider geschieht es immer noch, dass Patienten in solchen Situationen allein gelassen werden, obwohl noch längst nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Um Menschen auch in diesen anscheinend hoffnungslosen Fällen noch wirkungsvoll helfen zu können, ist aber in der Regel ein interdisziplinärer Ansatz erforderlich“, stellt der Schmerztherapeut Dr. Rainer Waldmann fest, der neben Dr. Thomas Albrecht, die Stuttgarter Schmerzklinik leitet und Belegarzt der Marienpark-Klinik ist. „Gerade in den letzten Jahren haben sich die Kenntnisse über Schmerzentstehung und –behandlung so rasant weiterentwickelt, dass heute durch Spezialisten in nahezu allen Fällen zumindest eine deutliche Linderung der Schmerzen erreicht werden kann.“
Das Signal „Schmerz an einer bestimmten Körperstelle“ wird durch elektrische Impulse über das Nervensystem ins Gehirn geleitet. Hier erst — und nicht am Entstehungsort —erfolgt die eigentliche Wahrnehmung des Symptoms Schmerz. Bei chronischen Schmerzen nun werden diese elektrischen Impulse auch ohne auslösende Ursache ans Gehirn gesendet. Im Gehirn kann nicht mehr unterschieden werden, ob die Signale berechtigt sind oder nicht. Die eingehenden Impulse werden automatisch als Schmerz „am anderen Ende der Leitung“ interpretiert. Gelingt es, diese Schmerzleitung zu unterbrechen, hört die Empfindung Schmerz auf. Eine chirurgische Unterbrechung der Nervenleitung erfordert aber einen relativ aufwendigen operativen Eingriff und bedeutet die endgültige Zerstörung der Nervenfunktion. Sehr viel eleganter ist die Beeinflussung der schmerzleitenden Impulse durch andere elektrische Signale.
Seit langem genutzt: Elektrizität zu Heilzwecken
Versuche, Schmerzen durch Elektrostimulation zu heilen, wurden schon bei den Griechen und Römern beschrieben. Schon damals wusste man, dass Menschen durch Kontakt mit Zitterrochen unter Umständen von ihren Gelenkschmerzen befreit wurden. Auch im Mittelalter und der beginnenden Neuzeit hat es immer wieder Versuche gegeben, Elektrizität zu Heilzwecken einzusetzen. Heute ist Elektrizität — in vielerlei Form — aus dem therapeutischen Angebotskatalog nicht mehr weg zu denken.
Dr. Waldmann: „Besonders bei chronischen in Arme und Beine ausstrahlenden Schmerzen, die durch eine Fehl- oder Überfunktion von rückenmarksnahen Nerven bedingt sind, wie sie z.B. nach erfolglosen Bandscheibenoperationen auftreten können, stellt die so genannte Rückenmarkstimulation eine effektive Möglichkeit der Schmerzlinderung dar. Sie ist auch bekannt als SCS von engl.: Spinal Cord Stimulation.“ Diese Methode ist seit mehr als 30 Jahren bekannt, wird aber erst in den letzten Jahren verstärkt eingesetzt. Zur Zeit kommt sie jährlich bei etwa 15.000 Patienten weltweit zur Anwendung.
Dr. Albrecht erklärt das Prinzip der Methode: „Bei der SCS wird eine Elektrode in die Nähe des Rückenmarks platziert. Sie gibt schwache elektrische Impulse ab und fungiert so gewissermaßen als Störsender, der die Nachrichtenleitung in den Nerven durch diese gezielt von außen gesetzten schwachen elektrischen Impulse hemmt. Die Patienten nehmen dies als leichtes Kribbeln wahr, die Schmerzempfindung wird überlagert. Etwa so, wie wenn man sich eine schmerzende Stelle reibt, an der man sich gestoßen hat. Durch das Reiben wird das Schmerzgefühl überlagert — ebenso wird bei der Rückenmarkstimulation das Schmerzgefühl durch das Kribbeln überlagert. Die Intensität des Reizstromes kann von den Patienten über den steuerbaren Impulsgeber individuell je nach Bedarf eingestellt werden; das Ganze funktioniert also im Prinzip wie ein ‚Schmerzschrittmacher‘.“
Dauerhafte Implantation erst nach einer Probephase
Die Implantation eines SCS-Systems, bestehend aus einer Elektrode, einem Impulsgeber und einer Energiequelle, erfolgt in zwei Schritten. Zunächst wird meist in örtlicher Betäubung unter ständiger Röntgenkontrolle die feine Drahtelektrode an die schmerzende Stelle vorgeschoben. Die richtige Lage kann mit Probestimulationen festgestellt werden. Die Patienten sind ja wach und müssen angeben, wo und wie stark sie das Kribbeln verspüren. Die optimalen Einstellungen für Impulsstärke und –frequenz können so festgelegt werden. Erfahrene Spezialisten können dies bei sehr ängstlichen Patienten auch in Vollnarkose durchführen.
Nach dem Eingriff werden die Patienten nach Hause entlassen, um die Wirkung des Systems unter normalen Lebensbedingungen zu überprüfen. Nach ein bis zwei Wochen können sie sich entscheiden, ob das System dauerhaft installiert werden soll. In einem zweiten Schritt kann dann also entweder das gesamte System unter die Haut eingepflanzt werden — ähnlich wie etwa bei einem Herzschrittmacher — oder ein implantierter Empfänger erhält die Impulse von einer am Körper getragenen Batterie. Für etwa vier bis sechs Wochen nach dem Eingriff — bis die Elektrode durch Bindegewebe an ihrem Platz gehalten wird — sollten anstrengende körperliche Aktivitäten vermieden werden, damit die Elektrode nicht verrutscht. Nachfolgend sollten zweimal jährlich Kontrollen stattfinden, um ein einwandfreies Funktionieren der Geräte sicherzustellen. Je nachdem, wie lange das Gerät täglich eingeschaltet ist, hält eine implantierte Batterie zwischen einem und sechs Jahren. Bei Bedarf kann sie in lokaler Betäubung ausgetauscht werden.
SCS — wirkungsvoll und nebenwirkungsarm
Die Schmerzursache wird mit dieser Methode natürlich nicht beseitigt und der Grad der Schmerzlinderung ist von Patient zu Patient verschieden. Etwa 50 – 70 Prozent der Betroffenen profitieren aber so sehr von dem System, dass sie ihren früheren Aktivitäten wieder nachgehen können. Allerdings sollte man bei eingeschaltetem Stimulationsgerät nicht Auto fahren und auch keine Maschinen bedienen. Es besteht die Möglichkeit, dass bei einer plötzlich einsetzenden Stimulation die Kontrolle über Fahrzeug oder Gerät eingeschränkt ist.
Dr. Waldmann: „Untersuchungen haben ergeben, dass es durch die schwachen elektrischen Impulse bei der Rückenmarkstimulation nicht zu einer Schädigung am Nervensystem kommt. Die Methode ist sehr sicher und nahezu frei von Nebenwirkungen. Chronische Schmerzen erfordern allerdings immer einen ganzheitlichen Ansatz und werden selten nur mit einer Methode behandelt. Die SCS ist aber bei gegebener Indikation in der Lage, Schmerzen zu lindern, den Medikamentenverbrauch zu reduzieren und die Lebensqualität deutlich zu verbessern. Aber auch wenn eine elektrische Stimulation bei schwer schmerzgeplagten Menschen nicht möglich ist, brauchen diese Patienten nicht zu verzweifeln. Im Rahmen der palliativen Medizin bestehen immer noch weitere Hilfsmöglichkeiten. So kann, wenn andere Methoden keine ausreichende Wirkung zeigen, z.B. die Implantation einer Morphinpumpe in Betracht gezogen werden. Der Satz ‚Damit müssen Sie leben‘ sollte heute in Zusammenhang mit Schmerzen wirklich nicht mehr zu hören sein.“
aus ORTHOpress 03|2002
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