Schneller als der Schmerz
Bis zu 20 Prozent aller Menschen in Deutschland leiden unter chronischen Schmerzen. Sie sind oftmals auf hochdosierte Schmerzmittel angewiesen; viele Betroffene können keiner beruflichen Tätigkeit mehr nachgehen.
Aktiv leben, erholsam schlafen!
Der Münchener Schmerzarzt Dr. Richard Ibrahim ist Leiter des DGS Schmerzzentrums München Ost. Das hochspezialisierte Zentrum bietet chronischen Schmerzpatienten eine stationäre multimodale Schmerztherapie und – jetzt auch ab Juli 2023 dann exklusiv – als ambulante Tagesklinik an.
Zusätzlich ist das DGS nun auch exklusives Zweitmeiungszen- trum. Damit prüft das Zentrum, ob empfohlene Operationen wirklich notwendig werden.
Herr Dr. Ibrahim, sie setzen bereits seit vielen Jahren auf eine sogenannte Multimodale Therapie. Was muss man sich darunter vorstellen?
Dr. Ibrahim: Die multimodale Therapie bei chronischen Schmerzen umfasst eine ganzheitliche Herangehensweise, bei der insbsondere auch psychologische Aspekte sowie verschiedene Techniken zur Schmerzbewältigung berücksichtigt werden. Chronische Schmerzen können eine erhebliche Belastung für den Körper und die Psyche darstellen. Daher ist es ganz wichtig, nicht nur die Schmerzen selbst, sondern auch weitere zugrunde liegende Faktoren anzugehen. Hier können verschiedene Ansätze wie kognitive Verhaltenstherapie, Entspannungstechniken und Achtsamkeitsübungen eingesetzt werden, um den Umgang mit Schmerzen zu verbessern und negative Gedankenmuster zu verändern.
Einfach ausgedrückt: Wir greifen auf mehreren Ebenen an, um den Schmerzzyklus zu unterbrechen. Dazu gehören physiotherapeutische 16 Maßnahmen wie Bewegungs- und Physiotherapie, um die körperliche Funktion zu verbessern und die Schmerzen zu lindern. Gleichzeitig wird durch die DGS Leitung in der Speziellen Schmerztherapie nun auch zunehmend mit medizinischem Cannabis therapiert. Die multimodale Therapie bei chronischen Schmerzen zielt darauf ab, eine individuell angepasste Behandlungsstrategie zu entwickeln, die die verschiedenen Aspekte des Schmerzerlebens anspricht.
Durch die Berücksichtigung der Psyche und den Einsatz verschiedener Schmerzbewältigungstechniken können Patienten mit chronischen Schmerzen eine verbesserte Lebensqualität und Schmerzlinderung erreichen.
Smart LoopTM: Durch digitales Lernen zur autonomen Schmerzlinderung
Beim Smart LoopTM-System basiert die Stimulation auf in Echtzeit erhobenen Daten. Jede Änderung des elektrischen Potentials der Nervenbahnen wird erfasst, sodass die Wirkung der Stimulationsimpulse kontinuierlich analysiert und die Parameter automatisch angepasst werden, um eine optimale Schmerzlinderung zu erzielen.
Die Technologie ist daher ein echtes Beispiel für künstliche Intelligenz, die sich in den Dienst der Menschen stellt, betont Dr. Ibrahim: „Algorithmen lernen dabei aus riesigen und stets aktuellen Datenmengen. So können sie Muster identifizieren, anhand derer Vorhersagen über die optimalen Stimulationsparameter individuell für jede Patientin und jeden Patienten möglich werden. Dies kann auf lange Sicht dabei helfen, die Wirksamkeit der Rückenmarkstimulation insgesamt zu verbessern. Durch die Analyse von Patientendaten wie Schmerzempfindlichkeit, Aktivitätsniveau und medizinischer Vorgeschichte kann die KI so eine maximale Schmerzlinderung in jeder denkbaren Situation erreichen, sei es beim Joggen, beim Autofahren oder im Schlaf.“
Ihr Schmerzzentrum ist darauf ausgerichtet, jeden PatientInnen die optimale Therapie anzubieten. Wie erreichen sie das?
Dr. Ibrahim: Chronische Schmerzen können durch verschiedene zugrunde liegende Erkrankungen oder Verletzungen verursacht werden. Jedem Schmerz liegen eigene Ursachen und Mechanis-men zugrunde.
Oberstes Ziel muss daher sein, die spezifischen Auslöser und Mechanismen des Schmerzes zu identifizieren. Nur so können wir eine maßgeschneiderte Behandlung für jeden Patienten entwickeln. Es gibt nicht die eine „richtige“ Therapie, denn jeder Mensch reagiert unterschiedlich auf Schmerzen und Behandlungen.
Die Wahrnehmung von Schmerz, die Schmerztoleranz und die Reaktion auf bestimmte Behandlungen variieren von Mensch zu Mensch. Daher ist es wichtig, die Behandlung an die individuellen Bedürfnisse und Reaktionen des Patienten anzupassen. Nur so schaffen wir es, „schneller als der Schmerz“ zu sein.
Zum Portfolio der Multimodalen Therapie gehört auch High Tech – aktuell die neueste Generation der Rückenmarkstimulation. Wie hat sich die Technik in den letzten Jahren entwickelt?
Dr. Ibrahim: Ein Meilenstein der letzten Jahre ist die sogenannte Closed bzw. Smart-LoopTM-Technologie. Das bedeutet, es werden kontinuierlich die Potentiale der Nervenbahnen erfasst, ausgewertet und daraufhin die Stimulation angepasst. Veränderungen im Schmerzverlauf können so automatisch erkannt werden. Man kann sich das vorstellen wie den Spurhalteassistenten bei modernen Autos:
Wenn die Straße plötzlich eine Kurve macht, folgt der Wagen wie auf Schienen. Bei der ist Smart- LoopTM-Technologie das ganz ähnlich. Es wird im Gegensatz zu früheren Generationen der Rückenmarkstimulation immer die richtige Stimulation gewählt, egal ob die PatientInnen gerade liegen oder sich bewegt.
Das trägt nicht nur zu erholsamer und ungestörter Nachtruhe bei: Auch häufig notwendige Überprüfungen der Einstellungen gehören damit der Vergangenheit an, was für die PatientInnen ungleich komfortabler ist als bei den klassischen Verfahren, die keine Möglichkeit haben, Veränderungen selbsttätig zu erkennen.
Für welche PatientInnen kommt eine solche Behandlung überhaupt infrage?
Dr. Ibrahim: Wir betrachten eine solche Therapieoption niemals isoliert, sonder immer als Teil unserer ganzheitlichen Strategie bzw. Stufen-Strategie, die mindestens eine Testphase von zwei Wochen erhält, bevor der Schmerzschrittmacher implantiert wird. So muss sichergestellt sein, dass es für die Beschwerden der PatientInnen keine ursächliche Behandlung mehr gibt.
Das könnte zum Beispiel der Fall sein, wenn eine bislang nicht durchgeführte Operation erfolgversprechend wäre. Sehr wichtig ist, dass vor dem Einsatz einer Rückenmarkstimulation alle anderen Behandlungsmethoden leitliniengerecht ausgeschöpft werden.
Auch die Testphase, die der endgültigen Implantation vorausgeht, muss sauber durchgeführt und dokumentiert werden. Dabei platzieren wir zur Probe zunächst eine sogenannte Trial-Sonde unter die Haut nahe der Wirbelsäule. Diese verbleibt für etwa zwei Wochen, um zu sehen, wie gut die Rückenmarkstimulation die Schmerzen lindert. Während der Probewoche führen die PatientInnen ein Schmerztagebuch, um die Schmerzintensität und die Reaktion auf die Rückenmarkstimulation festzuhalten. Dies hilft uns, die Wirksamkeit der Therapie zu bewerten und die geeigneten Stimulationsparameter einzustellen. Nach der Testphase entscheiden wir dann gemeinsam, ob eine dauerhafte Rückenmarkstimulation sinnvoll ist.
Herr Dr. Ibrahim, haben Sie vielen Dank für das Gespräch!
Dr. med. Richard Ibrahim ist Gründer der Praxisklinik Dr. med. Richard Ibrahim und Kollegen. Als Chefarzt der Clinic Dr. Decker und Leiter des Regionalen Zentrums der Deutschen Schmerzgesellschaft (DGS) München Ost verfügt er über jahrzehntelange Erfahrung in der invasiven Schmerztherapie und ist langjähriger Anwender von Neuromodulationsverfahren wie der SCS und der Spinalganglion-Stimulation.
Das DGS-Schmerzzentrum hat bei chronischen Schmerzpatienten nicht nur das Ziel Schmerzen zu reduzieren, sondern berücksichtigt mit seinem interdisziplinären Team alle fünf Dimensionen (Schmerzreduktion, Lebensqualität, Stimmung, Funktionalität, Schlaf). Exklusive Versorgungverträgen mit Krankenkassen erlauben es als Zweitmeinungszentrum dem DGS- Schmerzzentrum, ab Juli auch eine multimodale Schmerztherapie im Rahmen einer ambulanten Tagesklinik anzubieten.