Resorbierbare Schrauben ersparen Zeit und Zweiteingriff
Es war ein jähes Ende des Skiurlaubs: Ein stechender Schmerz in der Kniekehle ließ Andrea Feuerstack Böses erahnen. Die gelernte Krankengymnastin war sich schnell darüber im Klaren, dass ein Band im Knie gerissen sein musste. „Das Knie war sofort stark geschwollen und ich konnte es weder strecken noch beugen“, sagt die 29-Jährige, die zu dieser Zeit noch beim Hamburger Hockey-Club an der Alster in der Bundesliga spielte. Das vordere Kreuzband war gerissen – eine für die Stabilität des Knies zentrale Stütze. Fatal für eine Leistungssportlerin, da eine derart schwere Verletzung eine abrupte Zwangspause nötig macht.
Die Folge des Kreuzbandrisses: Das Schienbein schiebt sich gegenüber dem Oberschenkelknochen nach vorne – wie eine Schublade, die ein Stück herausgezogen wird. Daher der Ausdruck „vorderes Schubladenphänomen“, das diese Art der Lockerung des Kniegelenkes beschreibt. Als Andrea Feuerstack die Diagnose erfuhr, war für sie schnell klar, dass sie um eine Operation nicht herumkommen würde. Bei dem Eingriff wird das gerissene Kreuzband durch einen knapp einen Zentimeter breiten und acht Zentimeter langen Streifen, der zuvor aus der Mitte der Patellarsehne entnommen wurde, ersetzt – jener Sehne, die vorne das Kniegelenk abschließt und die kräftigste Sehne des Körpers ist. Etwa ein Drittel der Patellarsehne wird so in ein neues funktionsfähiges Kreuzband umfunktioniert.
Auch wenn viele Operateure eine spezielle Sehne aus dem Oberschenkel, die Semitendinosus-Sehne, einsetzen, so gilt der Ersatz des Kreuzbandes durch die Patellarsehne als Golden Standard. In vier von fünf Kreuzband-OPs entscheiden sich Operateure für die Patellarsehne. Obwohl es sich bei dem entnommenen Sehnenstreifen um straffes Bindegewebe handelt, das sich in der Regel nicht wieder neu bildet, regeneriert sich die Patellarsehne vollständig. Der Trick: „Der Streifen wird entnommen und dann die Schutzhülle der Patellarsehne nach innen gezogen und zusammengenäht“, erläutert der Hamburger Orthopäde und Sportmediziner Dr. Carsten Lütten.
Neuerdings kann man, so Lütten, das Band mit Schrauben fixieren, die der Körper selbst abbauen kann – mit so genannten bioresorbierbaren Interferenzschrauben. Die gesamte Operation wird endoskopisch durchgeführt, es sind also nur verhältnismäßig kleine Öffnungen notwendig, durch welche die Instrumente in das Knie eingeführt werden. Größere Schnitte sind hierfür nicht nötig – lediglich zur Entnahme des Patellarsehnenstreifens.
Zum Eingriff: Das gerissene Kreuzband wird vollständig entfernt und das Gelenk gesäubert, ehe die Vorbereitungen für den Einsatz der neuen Kreuzbandplastik aus körpereigenem Material getroffen werden. Dort, wo das ehemalige Kreuzband am Tibiakopf (Unterschenkelknochen) und dem Femur (Oberschenkelknochen) ansetzte, wird nun – genau in der Richtung, in der das entfernte Band früher lag – mit einer Hohlfräse ein Zugang gebohrt. Hier wird später das neue Kreuzband durchgezogen. Die herausgebohrte Knochensubstanz wird später wiederverwertet, um die Löcher wieder zu verschließen.
Zur Befestigung der neuen Sehne werden nun die bioresorbierbaren Interferenzschrauben (aus Polyglykonat) eingesetzt und in das Bohrloch hineingedreht und so das neue Kreuzband am Femur- sowie am Tibiakopf fixiert. Nach etwa einem Jahr haben sich diese Schrauben vollständig aufgelöst, der Körper hat sie selbst abgebaut – selbst in hochauflösenden Kernspinaufnahmen sind sie dann nicht mehr zu erkennen. „Dann haben sie im Knie auch keine Aufgabe mehr“, sagt Dr. Lütten, „denn die Knochenblöcke an den Enden des neuen Kreuzbandes sind inzwischen mit dem umgebenden Knochen zusammengewachsen“.
Untersuchungen an der Park-Klinik Manhagen in Hamburg haben gezeigt, dass die mit Kunststoffschrauben erreichbare Stabilität genauso groß ist wie bei den herkömmmlichen Metallschrauben. Die Stabilität der bioresorbierbaren Kunststoffschrauben ist gegenüber Metallschrauben nach zwei, vier, sechs und zwölf Wochen sogar höher – so die Ergebnisse dieser Untersuchung.
„Hinzu kommt, dass keine Rückstände im Knochen zurückbleiben und der Knochen den Fremdkörper gut akzeptiert – es wurden noch keine Fremdkörperreaktionen festgestellt“, meint Dr. Lütten. Und: Eine weitere Operation, in der Metallschrauben entnommen werden müssten, entfällt.
In der Regel können die Patienten bereits drei Tage nach dem Einsetzen der Kreuzbandplastik die Klinik schon wieder verlassen. Noch vor wenigen Jahren mussten Patienten mit einem Kreuzbandriss noch etwa drei Wochen stationär im Krankenhaus bleiben.
„Im Prinzip kann der Patient sein Knie sofort nach der Operation wieder belasten“, so Lütten. Tatsächlich machen jedoch auftretende Schmerzen vielen zunächst einen Strich durch die Rechnung. Nach einer Woche sollten aber selbst zögerliche Patienten mit dem Fahrrad fahren auf dem Hometrainer beginnen, nach zwei Wochen dann mit dem Gehen. Bereits nach vier bis sechs Wochen steht dann – sofern keine unerwarteten Komplikationen auftreten – erstes Training auf dem Laufband auf dem Programm. Auch Hockey-Spielerin Andrea Feuerstack begann nach fünf Wochen wieder mit leichtem Lauftraining – gestützt wurde das Knie durch eine Orthese.
Etwa 40 000 Kreuzbandrisse zählt das Statistische Bundesamt pro Jahr in Deutschland. Die gesetzlichen Krankenkassen sind dadurch mit 1,26 Milliarden Mark jährlich belastet – eine Summe, die nach Ansicht von Dr. Lütten erheblich geringer sein könnte. Schließlich kostet nicht nur die Operation die Kassen Geld, sondern auch Eingriffe, die zur Entnahme von Metallschrauben nötig sind, oder aber Revisionseingriffe – falls die Erneuerung einer alten Plastik nötig ist. „Sportlich aktive Menschen sollten heute einen Kreuzbandriss auf jeden Fall behandeln lassen“, so Dr. Lütten.
Sonst sind die Betroffenen zwar zunächst einmal ein paar Jahre lang beschwerdefrei, dann allerdings lassen auch die Außen- und Innenbänder im Knie nach. Es entsteht ein völlig lockeres Gelenk – mit der Folge der Instabilitätsarthrose. Menisken und der Knorpel, der die aufeinander reibenden Gelenkoberflächen normalerweise schützt, werden geschädigt. In vielen Fällen hilft dann nur noch die Schlittenprothese – ein künstliches Kniegelenk.
Die Hockeyspielerin Andrea Feuerstack hat sich sofort für eine solche Operation entschieden. Nach sechs Monaten stand sie wieder für den Hamburger Hockey-Club an der Alster auf dem Kunstrasen. Ins Krankenhaus musste die Leistungssportlerin seitdem nicht mehr – von den damals eingesetzten Schrauben ist heute, zwei Jahre nach der Operation, keine Spur mehr zu sehen.
von Andreas Schmitz
Ein Archivbeitrag* aus ORTHOpress 3 | 2000
*Archivbeiträge spiegeln den Stand zur Zeit der Erstveröffentlichung wieder. Die aktuelle Einschätzung des Sachverhalts kann durch Erfahrungszuwachs, allgemeinen Fortschritt und zwischenzeitlich gewonnene Erkenntnisse abweichen.