Zwischen Feuer, Erde und Luft: Ayurveda – Die alte indische Wissenschaft vom Leben
Baumrinde, Schlamm, Ölguss. Wellness? Fitness? Beauty? Oder doch alte indische Heilkunst? Wer weiß in der Flut der klingenden Namen kosmetischer Behandlungen, esoterischer Quacksalbereien und alternativer Heilmethoden schon, ob es sich nun um Elemente aus der Thalassotherapie, der Yin-Yang-Ausgleichsmassage, der Farbtherapie, Heilfasten, Aromatherapie oder gar der bioelektrischen Impedanzanalyse handelt?
Weder noch. Es geht um Ayurveda. Die alte indische Naturheilkunde. Die ganzheitliche Wissenschaft vom Leben. Vom gesunden Leben, von der Lebensweise und der Lebensdauer, wie die wörtliche Übersetzung aus dem Sanskrit besagt: Ayur steht für Leben, Veda ist die Wissenschaft. Ayurveda gilt als eines der ältesten Heilkundesysteme; Schätzungen über das Alter der Heilkunst bewegen sich zwischen 2500 und 5000 Jahren.
Doch viel wichtiger ist die Philosophie, die hinter der indischen Wissenschaft steckt. Sie wird meist überschwappt von der Wellnesswelle, in deren Strudel Ayurveda geraten ist. Ayurveda ist heute einer der Bestseller auf dem boomenden Wellnessmarkt. Der exotisch klingende Begriff aus dem Sanskrit ist hier zu Lande in keiner Weise geschützt. Wer ein Zimmer mit einer Massageliege und etwas warmes Kräuteröl hat, kann in das lukrative Geschäft mit dem Wohlfühlen einsteigen. Mit dieser Art von Hobby-Heilern ist Ayurveda auch zum kultigen Zauberwort für Schönheit und gesundes Leben geworden, kommerzialisiert als ein Mix aus Kräutermedizin und esoterischem Schnickschnack.
Doch bei Ayurveda geht es um etwas ganz anderes. Um viel mehr, das mit dem westlichen Verständnis von Medizin auf den ersten Blick schwer zu fassen ist. Um einen spirituellen Hintergrund, um das harmonische Gleichgewicht von Körper, Seele, Sinnen und Geist. Unsere Schulmediziner werden erst aktiv, wenn wir krank sind. Wenn eine Krankheit die Gesundheit bereits besiegt hat. Ayurveda hingegen setzt auf einer anderen Ebene an, verfolgt ein anderes Konzept von Medizin: Der Mensch ist eine Einheit aus Körper, Geist und Seele. Diese Einheit steht in ständiger Wechselwirkung mit der Umwelt und muss deshalb im Gleichgewicht gehalten werden. Ayurveda-Ärzte sehen ihre Aufgabe darin, das innere Gleichgewicht ihrer Patienten zu erhalten. Den Gleichklang von Körper und Seele. Denn jedes Ungleichgewicht stellt ein Problem dar. Und das, was wir Krankheit nennen, ist in der ayurvedischen Lehre der Ausdruck eines Ungleichgewichts der Lebensenergien. Durch Disharmonien können sich Gifte im Körper ansammeln, die gesundheitliche Störungen oder Krankheiten hervorrufen.
Deshalb: Vorbeugen. Das ist einer der Grundsteine der Philosophie, die hinter Ayurveda steckt. Das allgemeine Wohlbefinden fördern, Krankheiten vermeiden – sie gar nicht erst entstehen lassen. Sozusagen bei der Vorstufe von Krankheit aktiv werden, die Alarmsymptome erkennen. Sushutra, ein ayurvedischer Arzt, brachte dies schon vor rund 2500 Jahren mit seiner Definition von Gesundheit zum Ausdruck: „Gesundheit ist gleichbedeutend mit dem Gleichgewicht von Stoffwechsel, Verdauung, Körpergeweben und Ausscheidungen und ist abhängig vom inneren Wohlbefinden des Bewusstseins, des Geistes und der Sinne.“
Nicht ein Körperteil und ein bestimmtes Symptom werden behandelt, sondern der ganze Mensch. Der ganzheitliche Ansatz ist in der modernen westlichen Medizin nicht verankert, deshalb bereitet er uns auch Schwierigkeiten beim Verständnis der indischen Heilkunst: Zum Beispiel, dass zur ayurvedischen Behandlung verschiedene Ebenen und Komponenten gehören. Therapien wie Synchronmassage und Stirnölgüsse, aber auch Arzneien, in denen Sonne, Licht, Luft, Wasser, pflanzliche, mineralische und tierische Substanzen zum Einsatz kommen wie auch eine Anleitung zu einer individuell abgestimmten gesunden Lebensweise inklusive geistig-körperlicher Übungen und spezieller Ernährung – zur inneren Reinigung.
Harmonie der drei Doshas
Vata, Pitta, Kapha: Der Schlüssel zum Verständnis der überlieferten Naturheilkunde basiert auf der so genannten Lehre der drei Qualitäten. Die drei Vitalenergien Vata, Pitta und Kapha, auch Doshas oder Organisationsprinzipien genannt. Vata steht für das luftige Prinzip, Pitta für das feurige und Kapha für das erdige Prinzip. Die drei Doshas gelten als die Organisationskräfte der Natur. Sie steuern auch im Menschen das Zusammenspiel der fünf Elemente, aus denen jedes Lebewesen besteht. Vorstellen kann man sich die drei Doshas wie drei Instrumente: Wenn ihr Zusammenspiel harmonisch ist, ertönt ein wohlgefälliger Klang. Wenn jedoch falsche Töne das Konzert stören, dann sind die drei Bioenergien aus der Balance geraten.
Der erfahrene Ayurveda-Arzt kann dies diagnostizieren. Mit drei Fingern fühlt er den Puls, den so genannten Dreifingerpuls. Zuvor ermittelt er, welchen Typus sein Patient verkörpert. Er macht sich kundig über den Zustand, die Eigenschaften, die Gewohnheiten, Lebensweise, soziales Umfeld, bisherige Krankheiten, Veranlagungen sowie bestehende Probleme und Sorgen. Wie ist der Mensch? Fällt er unter den Vata-Typ, dann sind seine Elemente Bewegung, Aktivität und Kommunikation. Pitta-Typen werden als Menschen mit viel Energie beschrieben. Und Kapha-Menschen verfügen über Ausdauer, geistige Stabilität und Gelassenheit. Welches Dosha ist nun im Übergewicht und stört die Harmonie? Mit dem Fühlen des Dreifingerpulses stellt der Arzt den Zustand der einzelnen Organe und die Konstitution des Menschen fest.
Erst nach dieser ausführlichen Untersuchung folgt das, was viele Menschen mit Ayurveda assoziieren: Massagen mit Sesam- und Kokosöl, Stirnölgüsse, Kräutermedizin, Meditation, Yoga und eine spezielle Diät. Ohne Alkohol versteht sich, die Leber dankt es. Bis zu 14 verschiedene Massagen werden in Ayurveda-Zentren angeboten – die Diagnose bestimmt die Art der Massage. Zum Beispiel die Fünf-Öle-Massage, bei der zwei Masseure synchron Kräutertampons ins warme Ölgemisch tunken und damit den Körper entlang der Energiebahnen stempeln. Oder die wohl bekannteste Ayurveda-Massage „Pizhichil“: Sechs Liter warmes Öl werden von drei Personen im Umlauf gehalten, das während einer Stunde immer wieder entlang der Energiebahnen gegossen wird. So sollen die angesammelten Gifte aus dem Körper geschwemmt werden, im Dampfbad herausgeschwitzt und beim Peeling gänzlich entfernt werden. Entgiften, entschlacken, entspannen. Und da ist er wieder, der Wellness-Faktor. Doch wer Ayurveda nicht nur oberflächlich konsumieren will, der setzt sich mit der Philosophie der altindischen Erfahrungsmedizin auseinander. Nicht umsonst dauern ernsthafte Kuren, die auch in Indien und Sri Lanka angeboten werden, drei bis vier Wochen. Und damit ist es immer noch nicht getan. Denn das Ziel des Heilsystems ist es, die Gesundheit langfristig zu sichern. Durch ein gesundes Leben nach den ayurvedischen Richtlinien. Nach den Richtlinien für ein langes Leben. Auch mit Hilfe von Baumrinde, Schlamm und Ölguss.
von Michaela Straßmair
aus ORTHOpress 1 | 2002
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