Muskuläre Haltungsschwächen nehmen bei uns immer mehr zu. Davon betroffen sind nicht nur gestresste Menschen, die den ganzen Tag vor dem Computer sitzen müssen. Auch immer mehr Kinder haben keine Gelegenheit mehr, draußen herum zu toben und ihre Muskeln spielen zu lassen. Auf Dauer führt dies zu einer Verkümmerung besonders der so wichtigen Rückenmuskeln. Diese können dann ihre Aufgabe, nämlich den Rücken aufrecht zu erhalten, nicht mehr erfüllen.
Dabei kann man Rückgrat und Muskulatur mit dem Mast und den Tauen eines Segelboots vergleichen. Nur ausreichend starke Taue können bei Wind Mast und Segel halten. Ebenso können nur trainierte Muskeln die Wirbelsäule in gerader Haltung stabilisieren. Wird eine muskuläre Schwäche nicht rechtzeitig erkannt, können sich – besonders bei Kindern – diese Schwächen zu echten Schäden auswachsen. Rundrücken, Hohlrücken, Flachrücken oder Seitrücken (Skoliose) können so entstehen. Die Folgen machen sich unter Umständen erst Jahre später im Erwachsenenalter in der ganzen Tragweite bemerkbar. Aber auch Ungleichheiten in der Beinlänge, Beckenschiefstände und vor allem einseitige Belastungen z. B. durch das Tragen schwerer Schulranzen führen zunächst immer zu Verspannungen und Verkrampfungen der Muskulatur. Entscheidend wichtig ist es nun, diese am Anfang gar nicht so sehr auffälligen Veränderungen zu erkennen, bevor bleibende Schäden entstanden sind. Denn ohne gezielte Therapie entwickeln sich Haltungsschwächen zu Haltungsschäden. Diese sind durch Training nicht mehr zu korrigieren, weil dann schon knöcherne Veränderungen vorliegen.
Vor der Therapie muss eine gezielte Diagnostik erfolgen
Dr. Michael Nager, Sportarzt und Orthopäde aus München, kennt das Problem aus seiner Praxis. Die frühzeitige Diagnose war früher manchmal recht schwierig, da die traditionellen bildgebenden Verfahren wie Röntgen, Computertomographie oder Kernspin muskuläre Veränderungen gar nicht oder nicht sehr gut wiedergeben. Außerdem sind diese Methoden immer mit einer Strahlenbelastung verbunden. Heute stehen ihm in diesen Fällen neuere Verfahren zur Verfügung. Einmal können mit dem EMG (Elektromyelogramm) die Spannungszustände der Muskulatur – sowohl in Ruhe als auch in Bewegung – überprüft werden. Zu anderen kann man aber heute mit einer im Grunde verblüffend einfachen Methode Fehlstellungen und Spannungszonen im Bereich des Rückens feststellen. Dr. Nager: „Mit dieser 3D-Raster-Stereographie erhält man ohne großen technischen Aufwand sekundenschnell ein dreidimensionales Bild der Wirbelsäule und ein komplettes Rasterbild des Rückens. Die Aufnahmen können zudem ganz ohne Strahlenbelastungen und Kontrastmittelgabe gemacht werden, was ja besonders bei noch im Wachstum befindlichen Kindern und Jugendlichen wichtig ist. Den Patienten können die eigenen Schwachstellen sofort eindrücklich vor Augen geführt werden. Dies erleichtert nicht nur bei Kindern und Jugendlichen die Motivation für die erforderliche Therapie.“
Dr. Nager, der seit gut einem Jahr mit dieser neuen Diagnostik arbeitet, hat inzwischen über 700 Rücken vermessen. Er führt aus: „Manche Patienten sind gesundheitsbewusst und suchen den sportlichen Ausgleich zu ihrer vorwiegend sitzenden beruflichen Tätigkeit. Sie sind dann manchmal ganz überrascht, wenn ihnen anhand der Rasterbilder gezeigt werden kann, dass der vermeindlich gesundheitsfördernde Sport zu einer weiteren Verspannung der Muskulatur geführt hat. Besonders wenn man ohne begleitenden Muskelaufbau beginnt, Squash, Tennis oder auch Golf zu spielen, können ausgeprägte Spannungen in der Rückenmuskulatur die Folge sein. Diese Zusammenhänge werden oft verkannt.“
Rückenveränderungen als Ursache für Knieschmerzen
Ein wichtiger Aspekt, der erst durch die dreidimensionalen Aufnahmen so richtig ins Bewusstsein gerückt wird, ist die ungleichmäßige Gewichtsverteilung auf die beiden Körperhälften. Früher wurde mit dem Tragen der Schulranzen oft der Grundstock dafür gelegt. Heute sind Rücksäcke ja gesellschaftsfähig geworden. Sie erfüllen ihren Zweck aber nur dann, wenn sie auch über beiden Schultern getragen werden. Auch junge Mütter oder Väter, die ihre Kinder – manchmal über Jahre hinweg – immer auf der gleichen Seite tragen, sind gefährdet, ihre Muskulatur extrem einseitig zu entwickeln. Durch die Raster-Stereographie können solche ungleichmäßigen Gewichtsverteilungen als Ursache so mancher Hüft- und auch Kniebeschwerden ausgemacht werden. Einmal erkannt, können diese Ungleichgewichte dann durch ein gezieltes Muskelaufbautraining einfach und effektiv behandelt werden.
Dr. Nager: „Ziel aller unserer diagnostischen und therapeutischen Bemühungen ist es, schon möglichst bevor Schäden aufgetreten sind – insbesondere bei unseren Kindern – Haltungsschwächen zu erkennen und gezielt zu behandeln. Nicht zuletzt auch deswegen, weil wir Menschen immer ganzheitlich wahrnehmen. Und mit einem geraden Rücken und einer aufrechten Haltung verbinden wir ja nicht nur Gesundheit und Stärke, sondern auch bestimmte Eigenschaften wie Kraft, Entschlossenheit und Bestimmtheit. Gebeugte Menschen wirken leicht unterwürfig oder Mitleid erregend. Darum sollten wir die Lebensbedingungen unsere Kinder so gestalten, dass sie aufrecht durchs Leben gehen können.“
ORTHOpress 4 | 2001
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