Suche
0
Anzeige
Krankheitsbilder

Fibromyalgie

Thoughtful woman at home - copyspace

Die „unbekannte Volkskrankheit“

Jeder von uns kennt – beispielsweise bei einem grippalen Infekt – Antriebslosigkeit, Müdigkeit, Kopf- und Gliederschmerzen. Meist gehen diese unangenehmen Begleiterscheinungen innerhalb weniger Tage vorbei. Aber es gibt auch Menschen, deren Leben nahezu täglich von solchen Beschwerden stark eingeschränkt wird, ohne dass sich derzeit eine klinische Ursache finden lässt. Sie leiden unter andauernden Muskelschmerzen, Weichteilrheumatismus und extremer Müdigkeit. Seit einigen Jahren hat die Medizin für dieses Krankheitsbild, das scheinbar aus dem Nichts kommt, einen Namen: Fibromyalgie-Syndrom. Der Kölner Rheumatologe Dr. Axel Hoffmann und der Pforzheimer Schmerztherapeut Dr. Claudius Böck haben für Orthopress die wesentlichen Merkmale der Krankheit zusammengefasst. 

Das Fibromyalgie-Syndrom (FMS) wurde erstmals bereits im 19. Jahrhundert beschrieben. Patienten klagten über Schmerzen im Bereich der Gelenke mit druckempfindlicher, schmerzhafter und verhärteter Muskulatur. Dabei war das Krankheitsbild durch das Fehlen von lokalen oder systemischen Entzündungszeichen in Verbindung mit den klinisch vordergründigen Symptomen Erschöpfbarkeit und Schlafstörungen gekennzeichnet.

Der Symptomenkomplex wurde jedoch erst später als eigenständige rheumatologische Erkrankung definiert. Seit 1977 existiert das Krankheitsbild „Fibrositis“ mit chronischen Schmerzzuständen, schmerzhaften Druckpunkten, schweren Schlafstörungen, Morgensteifigkeit und Müdigkeit. Aber erst zu Beginn der 90er-Jahre setzte sich der Begriff des „Fibromyalgie-Syndroms“ international durch. 

Definition

Es besteht eine großflächige Schmerzsymptomatik in Muskeln, Sehnen, Faszien und Bändern. Dies legt zwar die Annahme einer Entzündung als pathogenetische Ursache nahe. Neueste Untersuchungen diskutieren u.a. Stoffwechseldefekte, Störungen im Tiefschlafprofil, hormonelle Sörungen (insb. Wachstumshormon) und chronische persistierende Virusinfekte. Trotz dieser Bemühungen um eine Verbesserung der Definition und Eingrenzung bleibt das Fibromyalgie-Syndrom weltweit eine meist umstrittene Erkrankung. Dies liegt vor allem an dem Umstand, dass es trotz Grundlagenforschung bislang nicht gelungen ist, ein organisches Korrelat dieser Erkrankung nachzuweisen. Dazu trägt das Fehlen von röntgenologischen und laborchemischen Nachweisen für die Existenz dieser Erkrankung bei. Deshalb wird der psychosomatische Aspekt in der Krankheitsbewältigung immer wieder vorangestellt und auch entsprechend interpretiert.

Auftreten der Erkrankung

In verschiedenen Studien an Patienten aus allgemeinmedizinischen Praxen konnte festgestellt werden, dass etwa 5% aller Patienten an den beschriebenen Symptomen leiden. Man geht heute allgemein von 2–3% (Frauen 3,4%, Männer 0,5%) in der gesamten Bevölkerung aus, wobei die Angaben in Europa zwischen 3% (Deutschland) und 10,5% (Norwegen) schwanken. Bei Frauen zwischen dem 60. und 80. Lebensjahr wird sogar eine Häufigkeit von bis zu 7% geschätzt. Damit liegt das geschätzte Auftreten für das FMS höher als für die Rheumatoide Arthritis; es gehört somit zu den häufigsten Krankheitsbildern in der Rheumatologie.

Klinische Präsentation und Untersuchungsbefund

Typisch sind die Gelenkschmerzen, die eine Abhängigkeit von äußeren Faktoren wie Kälte/Wärme und Luftfeuchtigkeit zeigen. Kniegelenksschmerzen sind dabei die häufigste Lokalisation.

Die Patienten klagen in der Regel über initial asymmetrische, dann im Verlauf sich symmetrisch ausbreitende, ausstrahlende Schmerzen mit einer rumpfbetonten Häufung. Diese Schmerzen treten vor allem bei kalter und feuchter Witterung auf. Dazu kommen häufig Schwellungen der Hände und Extremitäten, die auch als „fluid-retention-Syndrom“ beschrieben werden (Gewichtszunahme von mehr als 2 kg innerhalb eines Tages), und eine ausgeprägte Steifigkeit der Gelenke durch diese Flüssigkeitseinlagerungen. Schmerz­linderung bietet bei vielen Patienten Wärme und leichte körperliche Aktivität. Schlaf wird wie auch beim chronischen Erschöpfungssyndrom (CFS) von den Betroffenen als nicht erholsam beschrieben.

Hauptsymptom des Fibromyalgie-Syndroms sind jedoch chronische Schmerzzustände. Die Patienten können die Gelenk-, gelenknahen und muskulären Schmerzen oft nicht zuordnen. Meist begleiten Empfindungsstörungen wie Brennen oder Kribbeln das klinische Bild. Auch Beschwerden im Sinne eines Reizdarmes mit Verstopfung und Durchfällen im Wechsel sind zu beobachten.

Die Patienten reagieren auf geringe Anstrengungen mit schwerer, logisch kaum nachvollziehbarer körperlicher und/oder mentaler Erschöpfung. Kopfschmerzen, Allergien sowie Konzentrationsstörungen. Angstzustände oder depressive Verstimmtheit sind weitere klinisch führende Symptome. Daneben sind geradezu typisch eine weitere Vielzahl von Symptomen.

Bei der internistisch-rheumatologischen Untersuchung zeigt sich meist ein Druckschmerz an den so genannten „tender points“. Diese definierten Druckpunkte werden mit dem Daumen bzw. 2 oder 3 Fingern stimuliert, wobei ein Druck von ca. 4 kg ausgeübt wird. Mittels der geeigneten Untersuchungstechnik ist eine genaue Lokalisation der Druckpunkte möglich. Die neurologische Untersuchung ist bei FMS-Patienten unauffällig; EMG-Untersuchungen zeigen keine Veränderungen. Eine Muskelbiopsie an entsprechenden Schmerzpunkten zeigt geringe Veränderungen auf (hoher Anteil roter Muskelfasern), unter dem Elektronenmikroskop sind jedoch keine Auffälligkeiten zu beobachten. Die Depression wird heute als sekundär bewertet im Sinne einer unzureichenden Krankheitsbewältigung.

Fibromyalgie als unbekannte Volkskrankheit mit höchsten sozialen Kosten und einer massiven Einschränkung der Lebensqualität

Die Einschränkungen im täglichen Leben und in Bezug auf die Qualität des Lebens werden von Patienten mit Fibromyalgie wesentlich einschneidender erlebt als z.B. von Patienten mit Rheumatoider Arthritis (RA) oder Osteoarthrose (OA). Zusätzlich berichten die Patienten häufig von einer schweren Müdigkeit.

Die Lebensqualität von Patienten mit entzündlichen rheumatischen Erkrankungen mit Diagnose „Fibromyalgie“ ist signifikant verschlechtert. Viele der Patienten entwickeln deshalb eine Arbeitsunfähigkeit und stellen häufig früher einen Rentenantrag.

Obwohl der typische FMS-Patient eine Frau um die 40 Jahre ist, tritt das FMS ebenso bei Männern, in allen Altersstufen, bei allen Nationalitäten und wohl unabhängig vom sozialen Status auf. Die Biografie und Persönlichkeitsstruktur der Fibromyalgie-Betroffenen zeigt allerdings bestimmte wiederkehrende Grundzüge und wird heute anerkanntermaßen als eine Voraussetzung dafür angesehen, später an diesem Beschwerdebild zu erkranken: Die Mehrheit der Patienten sind in ihrer Persönlichkeitsstruktur typischerweise überaktiv, überperfekt, leistungsmotiviert, harmoniebedürftig, sozial überangepasst und häufig in Helfer-Syndrom-Berufen tätig. Überdurchschnittlich häufig finden sich psychosoziale Belastungssituationen in ihrer Lebensgeschichte. Auch bei Kindern wird ein FMS beobachtet. Klinisch manifestiert sich dieses in einer Leistungseinbuße und einer allgemeinen Verzögerung der Entwicklung. Bei Schulkindern führt dies zur Verhaltensänderung in der Klasse und daher zur Verschlechterung des Notendurchschnitts bis zur Gefährdung der Versetzung.

Therapeutischer Ausblick

Die frühe Erkennung der Erkrankung ist eine zunehmende Herausforderung. Die Behandlung des FMS beruht weitestgehend auf empirischen Erfahrungen. Leider gibt es in der Behandlung des FMS keine langfristigen randomisierten, Doppel-Blind-, Placebo-kontrollierten Studien, wie diese z.B. in der Behandlung von Hypertonie, Hypercholesterinämie oder Diabetes mellitus üblich sind. Die medikamentöse Therapie entwickelt sich meist aus der „Kreativität des behandelnden Arztes“ die Erkrankung erträglicher zu gestalten. Folgende allgemeine Therapie-Ansatzpunkte lassen sich entwickeln und sind meist additiv:

Zur Behandlung des Gelenkschmerzes eignen sich nichtsteroidale Antirheumatika. Diese sind bei der meist vorbestehenden Magenunverträglichkeit allerdings nicht längerfristig einsetzbar. Hier steckt die Chance in der Verabreichung der modernen COX2-Inhibitoren (z.B. Celecoxib, Celebrex). Die Behandlung mit Steroiden kann gelegentlich eine Schmerzlinderung ergeben, sollte aber immer durch den erfahrenen Therapeuten durchgeführt werden!

Einen besonderen Stellenwert in der Schmerzlinderung nehmen die so genannten Antidepressiva ein. Sie bewirken bei FMS eine deutliche Reduktion des Schmerzes und eine Verbesserung des Durchschlafvermögens. Es werden dabei die tricyclischen Antidepressiva (Saroten) wie auch die modernen Serotonin-Reuptake-Hemmer, wie z.B. Paroxetin, Seroxat, alleine oder in Kombination eingesetzt. Eine individuelle Dosierung und eine einschleichende Therapie empfiehlt sich.

Neben und in Komedikation zu diesen Medikamenten kommen auch die Opioid-Analoga zur Therapie des Schmerzes in Betracht. Bei den nebenstehenden Muskelschmerzen bewähren sich zusätzlich sog. Muskelrelaxantien (Mydocalm). Im schwersten Fall des Fibromyalgie-Syndroms müssen gelegentlich auch Opioide und Morphine eingesetzt werden.

Neben diesen medikamentösen Strategien dürfen sportlich-physikalische Aktivitäten, die Akupunkturmassage, Stretching, Bewegungsbäder und Kryoanwendungen (Fango oder Kälte) bis hin zur Kältekammer als wichtige Elemente nicht vergessen werden. Alternativ kommt auch die Laser-Soft-Anwendung in Betracht, wie auch der Felden-Krais. Dabei sollte sich eine entsprechende aktive Therapieform an dem Trainingszustand und der oft zusätzlich bestehenden Hypermotilität der Betroffenen orientieren. Bevor eine solche aktive Therapie aufgenommen wird, sollte ein Belastungs-EKG und möglichst auch eine Bioimpedanzmessung durchgeführt werden. Letztere dient insbesondere der diätischen Beratung des Patienten. Die Ernährung sollte möglichst cholesterinarm und reich an Vitaminen und Spurenelementen einschließlich Kalzium sein. Da Schmerzpatienten das Sonnenlicht meiden, sollte auch eine genügende Insolation erfolgen.

Auch die Gesprächstherapie im Sinne einer akuten Intervention ist eine therapeutische Option in der  Behandlung und ergänzt die medikamentöse Strategie. Daneben werden auch die progressive Muskelrelaxation nach Jacobson, autogenes Training bis hin zur Hypnose im Repertoire des individuellen Behandlungsplans zu nennen sein.

Aber auch wenn es noch Unterschiede in der therapeutischen Kreativität beim FMS gibt, so ist doch die Anerkennung als „Erkrankung“ für viele Betroffene schon eine wertvolle Hilfe: Neben den Krankheitssymptomen werden Fibromyalgie-Kranke oft zusätzlich durch soziale Probleme (Arbeitsplatz, Rentenversicherung) belastet. Voraussetzung für eine Verbesserung der Schmerz- und Beschwerdensymptomatik ist die ausführliche Aufklärung des Fibromyalgie-Betroffenen über die Ursachen, den Verlauf, die Prognose und die therapeutischen Möglichkeiten. Einen großen Rückhalt haben viele der erkrankten Patienten durch die entstandenen Selbsthilfegruppen bekommen. Hier gelingt der Austausch der Betroffenen untereinander. Wesentlich für die Therapie ist jedoch das Verständnis des Arztes für die körperlichen, aber auch die seelischen und sozialen Beeinträchtigungen des Betroffenen. Diese schaffen die Basis für den therapeutischen Zugang und können das bei Fibromyalgie-Betroffenen nicht selten anzutreffende „doctor hopping“ zu Gunsten eines stabilen Arzt-Patienten-Bündnisses gegen den Schmerz ablösen.

ORTHOpress 3 | 2001

Alle Beiträge dienen lediglich der Information und ersetzen keinesfalls die Inanspruchnahme eines Arztes*in. Falls nicht anders angegeben, spiegeln sie den Stand zur Zeit der Erstveröffentlichung wider. Die aktuelle Einschätzung des Sachverhalts kann durch Erfahrungszuwachs, allgemeinen Fortschritt und zwischenzeitlich gewonnene Erkenntnisse abweichen.