Eine Säule, die Haltung bewahrt
Das menschliche Skelett nimmt durch seine vertikale Orientierung eine Sonderstellung in der Natur ein.
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Das menschliche Skelett nimmt durch seine vertikale Orientierung eine Sonderstellung in der Natur ein. Mit seiner langen Wirbelsäule, dem flachen Brustkorb, den breiten Schultern und Hüften unterscheidet es sich deutlich von dem Knochengerüst anderer Wirbeltiere, deren Körperachsen fast ausschließlich waagerecht ausgerichtet sind.
Der aufrechte Gang, der wohl bedeutendste Schritt in der evolutionären Entwicklung der Humiden, hat es den Armen ermöglicht, losgelöst von ihrer ursprünglichen Funktion als Fortbewegungs- und Transportorgan völlig neue Aufgaben zu übernehmen, wie den Gebrauch von Werkzeugen und die Nutzung der Hände als Tastorgane und zur Kommunikation.
Die “tragende Rolle” im Bewegungssystem, welches aus mehr als 200 Einzelknochen, dem Muskel-Band-Apparat und den Gelenken besteht, kommt der Wirbelsäule zu; sie bildet als knöcherne Gliederkette die Längsachse des Skeletts.
Aufgebaut ist sie aus 24 beweglichen Wirbelsegmenten, die durch faserknorpelige Bandscheiben, kurzwegige Muskeln, einen recht straffen Bandapparat und Gelenkfacetten miteinander verbunden sind. Je nach deren Lage unterscheidet man sieben Halswirbel (HWS), den beweglichsten Abschnitt der Wirbelsäule, zwölf Brustwirbel (BWS), die mit ihren Querfortsätzen den Brustkorb tragen, und fünf Lendenwirbel (LWS), welche die Masse des Oberkörpers tragen.
Das in den Beckenring eingefügte Kreuzbein bestand zu Zeiten der Fortbewegung auf vier Extremitäten ebenfalls aus fünf einzelnen Wirbeln. Diese sind jedoch mit der Aufrichtung des Rumpfes und der Zunahme des axialen Drucks im Zweifüßlerstand zu einer Platte verschmolzen.
Mast und Takelage
Die hauptsächliche Aufgabe der Wirbelsäule ist es, das Tragen des Rumpfes und Bewegungen des Kopfes und Oberkörpers zu ermöglichen. Darüber hinaus bilden Wirbelkörper und Wirbelbögen einen schützenden Kanal zur Ummantelung des Rückenmarks, dem wichtigsten Nervenstrang des Organismus.
Als Achsenorgan des Körpers muss die Wirbelsäule zwei sich widersprechende mechanische Funktionen erfüllen: Zum einen muss sie starr sein, stabilisieren, zum anderen biegsam sein. Eine spezifische “Vertäuung” aus Muskel-, Band- und Bindegewebszügen (Faszien) lässt beide Eigenschaften zu.
Kapandji verglich die Wirbelsäule mit dem Mast eines Segelschiffes; die Rumpfskelettmuskulatur hat tatsächlich Ähnlichkeit mit der Takelage eines Schiffsmastes. Der im Becken verankerte “Mast” erhebt sich bis in die Region des Kopfes, in Höhe der oberen BWS trägt er als querliegende “Rahe” den Schultergürtel.
Auf mehreren Etagen sind Muskel- und Faszienzüge in der Art von “Haltetauen” angebracht, welche die Wirbelsäule mit ihrer basalen Verankerung, dem Becken, verbinden. Ein zweites System von “Haltetauen” verspannt in umgekehrter Richtung Schultergürtel und HWS.
In symmetrischer Stellung (beidbeiniger Stand) sind die Spannkräfte der “Haltetaue” nahezu ausgeglichen: Der “Mast” steht aufgerichtet und gestreckt. Ruht das Gewicht des Körpers nur auf einem Bein (Standbeinphase), kippt das Becken ein wenig zur Spielbeinseite, die Wirbelsäule beschreibt eine wellenförmige Linie. Vom Zentralnervensystem gesteuert stellen die Muskelzüge ihre Spannung so ein, dass ein Gleichgewicht herrscht.
Aber nicht nur in seitlicher Ausrichtung besteht ein Spannungsgleichgewicht. Eine ebensolche ausgewogene “Vertäuung” besteht, bei optimaler Aufrichtung der Wirbelsäule, zwischen der vorderen Hals-, Brust-, Rippen- und Bauchwandmuskulatur auf der Vorderseite und der kurzen Nacken- und Rückenmuskulatur auf der Rückseite.
Sie ist dennoch kein Stab
Von hinten oder vorne betrachtet ist die Wirbelsäule prinzipiell ein gerader Stab, obwohl geringfügige seitliche Abweichungen innerhalb bestimmter Grenzen als Norm anzusehen sind, keine Wirbelsäule ist in frontseitiger Betrachtung wirklich gerade. In der seitlichen Betrachtungsebene weist das Achsenorgan normalerweise vier physiologisch bedingte Krümmungen auf: die typische Doppel-S-Form.
Die entwicklungsgeschichtliche Aufrichtung in den Zweibeinstand wiederholt sich während der Kleinkindphase in einem Zeitraffer. Der Säugling erlernt im ersten Lebensjahr seinen Körper vom stabilen Vierfüßlerkriechen und Vierfüßlerstand über den weniger stabilen Sitz in den labilen Stand aufzurichten.
In dieser Zeit bildet die Wirbelsäule ihre Schwünge aus. Bei den meisten Quadrupedalen (Vierfüßlern) hat die horizontal orientierte Wirbelsäule eine über die gesamte Länge rückwärts gebogene Form (Kyphose), beim Neugeborenen ist sie ein Stab. Mit der Fähigkeit sich in Bauchlage zu drehen, den Kopf anzuheben und zu halten, formt sich beim Säugling die vorwärts geschwungene Halslordose. Beim sitzenden Kleinkind (6.-7. Lebensmonat) zwingt das nach hinten aufgerichtete Becken LWS und BWS in eine kyphotische Stellung: Die BWS-Kyphose wird geformt.
Erst mit Erreichen des Stands lassen nun auf die Wirbelsäule zunehmend vertikal-axial einwirkende Kräfte Kreuzbein und Becken wieder nach vorn kippen, als Folge davon erhält die LWS ihren lordotischen Schwung. Nach ungefähr zehn Jahren hat die Wirbelsäule ihre definitive Form bekommen.
Über Sinn und Funktion der Wirbelsäulenschwünge ist viel nachgedacht und geforscht worden. Bislang nahm man an, dass die Krümmungen der Wirbelsäule deren Widerstandsfähigkeit gegenüber axial gerichteten Druckkräften steigert, indem sie wie bei einem sich federnd verbiegenden Stab die Energie über die sich verstärkenden Krümmungen abgibt.
Dieses trifft nur teilweise zu. Versuche mit vertikal gerichteten Stößen zeigten, dass mit Einwirken der Kraft das Becken eine rückwärts gerichtete Bewegung erfährt, was der Federstab-Theorie widerspricht. Tatsächlich dürfte die wesentliche Dämpfung, und damit die größte Zwischenspeicherung von Energie, in den elastischen Bandscheiben erfolgen, gleichgültig, in welcher Stellung die Wirbelsäule sich befindet.
Der aufgerichtete Mensch – eine Fehlkonstruktion?
Auf dem Gebiet der orthopädischen Medizin fallen öfter die Begriffe Wirbelsäulenstatik und (noch häufiger) -fehlstatik. Gewöhnlich wird mit Fehlstatik ein Abweichen der Wirbelsäule oder einzelner Abschnitte aus der physiologischen Normstellung bezeichnet, gleich in welche Richtung.
In der Technischen Mechanik behandelt das Teilgebiet der Statik die angreifenden Kräfte an (starren) Körpern, die im Gleichgewicht sind. Zwar ist der Mensch kein starrer Körper, dennoch hält ein hochkomplexes Zusammenspiel jener oben angeführten muskulo-faszialen Vertäuung und des Nervensystems Wirbelsäule und Rumpf im Gleichgewicht. Eine immense Leistung schon an sich, wenn man die wenig vorteilhafte hohe Schwerpunktlage des Beckens und die Länge des frei getragenen Rumpfes berücksichtigt.
Die Länge des Rumpfes bringt bei Bipedalen (Zweifüßlern) ein weiteres Problem mit sich: Sie führt zu hohen Lasten. Während die horizontal ausgerichtete Wirbelsäule unter 4-Punkt-Abstützung kaum belastet wird, addieren sich in vertikaler Ausrichtung die Gewichte der Körpersegmente entlang der Wirbelsäule auf.
Und nicht nur das. In der Seitenansicht wird deutlich, dass die Teilmassen der einzelnen Segmente nicht senkrecht über der stützenden Wirbelsäule liegen. Um sie in ihrer Lage zu halten, müssen die Rückenmuskeln erhebliche Zugkräfte ausüben, was jedoch nicht über die Tatsache hinwegtäuscht, dass die Gewichte der oberen Körpersegmente besonders lange Hebelarme gegenüber der unteren LWS haben.
Zieht man zudem in Betracht, dass die evolutionäre Aufrichtung des Achsenorgans noch nicht abgeschlossen ist und dass bedingt durch den scharfen Umschwung zwischen der Kreuzbeinkyphose und der Lendenlordose die Bandscheibe im Übergangssegment L5/S1 keilförmig ist und dort keine ausreichende Energiepufferung stattfinden kann, wundert es kaum, dass an diesem natürlichen Schwachpunkt – und überhaupt in der unteren LWS – die meisten Funktionsstörungen und strukturellen Läsionen der Wirbelsäule auftreten (s. Abb. 1).
Mechanisch wie orthopädisch gesehen eine Fehlkonstruktion.
Fehlstatik – eine Frage der Balance
Solange sich die haltungsbewahrenden muskulären und faszialen Systeme in einem ausgewogenen Kräfteverhältnis befinden, besteht ausreichend Kompensation hinsichtlich der anatomischen Schwachstellen und ungünstigen Hebelverhältnisse.
Erfüllt nur einer der beteiligten Muskeln seine Funktion nicht hinreichend oder kommt es anderweitig zu Organfunktionsstörungen bzw. Fehlsteuerungen in dem versorgenden Segment, so hat dies Auswirkungen auf alle mitbeteiligten Strukturen und auf die Stellung des zu stabilisierenden Segments – und somit auf das gesamte Achsenorgan.
Muskelfunktionsstörungen können zum einen in Form von Abschwächung, zum anderen in Form von Überaktivität durch erhöhte Spannungslage auftreten. Ein abgeschwächter Muskel entwickelt in Relation zu seinen Last- und Hebelverhältnissen zu wenig Kraft.
Demgegenüber entwickelt der direkte Gegenspieler (Antagonist) eine erhöhte Kontraktionsbereitschaft. Wird dieser Zustand dauerhaft, passt sich der Muskel den veränderten Gegebenheiten baulich an, verkürzt sich und hebt das Gleichgewicht im betroffenen Segment auf.
Im klinischen Sprachgebrauch wird dies als muskuläre Dysbalance bezeichnet, im mechanischen Sinne als Fehlstatik.
Streng genommen kommen weder muskuläre Balance noch eine ausgewogene Wirbelsäulenstatik annähernd bei irgendeinem Menschen vor; die Lebens- und Bewegungsgewohnheiten des gemeinen Zivilisationsbetroffenen lassen dies einfach nicht zu: Bewegungsmangel, sitzende Tätigkeit, körperliche Überlastung, dauerhaft einseitige Belastung des Bewegungsapparates unergonomische Arbeitsabläufe und -haltungen, Übergewicht, ganz zu schweigen von den vielfältigen Stressfaktoren, denen man sich kaum entziehen kann und die das innere wie das äußere Gleichgewicht stören. Da kann es schon schwer werden für Wirbelsäule und Eigentümer, Haltung zu bewahren.
Aus ORTHOpress 1 | 2002
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