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Leben & Gesundheit

Stress: Eine Analyse

Frau ist von der Arbeit gestresst

Was ist Stress?

Von Stress ist viel die Rede. „Ich hab zur Zeit viel Stress im Beruf“, heißt es. „Gabi und Dieter haben ziemlichen Stress“, erzählt ein Freund. Und der vierzehnjährige David bemängelt, dass seine Eltern viel zu häufig „Stress machen“. Man gewinnt den Eindruck, das Wort „Stress“ werde inflationär gebraucht, und tatsächlich fällt es seit Jahren immer öfter. Manchmal mag der Ausdruck im übertreibenden Sinne gebraucht werden. Dennoch lässt sich nicht abstreiten, dass unser Alltag in den vergangenen Jahrzehnten immer hektischer geworden ist – und der Druck auf den Einzelnen in der Leistungsgesellschaft stetig höher. Stressige Situationen, Eile, Hektik und gesteigerte Anspannung gibt es wohl seit Anbeginn der Menschheit, wenn auch heute anders als früher. Aber es dürfte kein Zufall sein, dass das englische Wort „Stress“, für das sich im Deutschen so recht keine Entsprechung findet, erst mit dem Wirtschaftswunder Eingang in die deutsche Sprache gefunden hat.

Was bedeutet Stress?

Der Duden weist Stress als ein medizinisches Wort aus: starke körperliche und seelische Belastungen, die zu Schädigungen führen können; Überbeanspruchung, Anspannung. Stress hat aber nicht nur negative Seiten. Er kann den inneren Antrieb fördern und zu Höchstleistungen führen – in vielerlei Hinsicht. Stress als Doping zum Erfolg. Denn Stress ist Energie pur – und Energiebedarf zugleich. Hinter dem Wort verbirgt sich eine körperliche wie psychische Gratwanderung. Wer seinen Stress beherrscht, kann ihn in konstruktive Kraft und schöpferische Energie verwandeln, so genannten „positiven Stress“, der mitunter Flügel verleiht. Wer ihn nicht beherrscht, geht mit ihm unter. Denn der Stresszustand ist ein hoch explosives Gemisch.

Was passiert im gestressten Menschen?

Stress ist die Reaktion des Körpers auf Gefahren und Situationen, die die gesamte Aufmerksamkeit und Konzentration des Menschen erfordern. Und seine ganze Kraft. Im Extremfall, um zu überleben. Als die Menschen zu Urzeiten noch in Höhlen lebten, hatten sie oft – wie die Tiere in der freien Wildbahn heute noch – lebensgefährliche Situationen zu meistern. Situationen, in denen der Mensch an sich seinem natürlichen Feind unterlegen gewesen wäre, ihm aber durch Bündelung all seiner Intelligenz und Kräfte widerstehen konnte. Und zwar durch Kampf oder Flucht. Die Bündelung dieser Kräfte wird im Gehirn ausgelöst – diesen Zustand nennen wir heute Stress.

Der Körper setzt dabei einen ausgeklügelten Schutzmechanismus in Gang: Er schüttet, gesteuert durchs Gehirn, bei der Erkennung von Stressfaktoren über die Hirnanhangdrüse in Sekundenbruchteilen bestimmte Hormone aus. Diese veranlassen ihrerseits die Nebennieren zur Produktion von Adrenalin. Je stressiger die Situation, desto mehr Adrenalin wird produziert und ausgeschüttet. Das freigesetzte Adrenalin wirkt wie ein Aufputschmittel. Es hat mannigfaltige Wirkung auf all jene Körperfunktionen, die für die Bewältigung der Stresssituation wichtig sein können: Die Herzschlagfrequenz erhöht sich und der Blutdruck steigt. Dieser „Turbo-Effekt“ stellt dem Körper kurzzeitig mehr Energie und Sauerstoff zur Verfügung. Der Organismus läuft sozusagen auf Hochtouren. Die Atmung wird schneller, um mehr Sauerstoff – und damit mehr Energie – in die Muskeln und zu den Organen zu transportieren. Je nachdem, welche körperliche Reaktion auf die schwierige Situation in Betracht kommt, spannen sich die Muskeln an: Weil angespannte Muskeln schneller reagieren können und obendrein unempfindlicher gegen Angriffe von außen sind. Der Mensch wird abwehrbereiter und kurzfristig weniger verletzlich. Jene Organe, auf deren Arbeit der Körper vorübergehend verzichten kann, stellen ihre Tätigkeit ein oder verlangsamen sie stark, um die Energiereserven des Körpers zu bündeln. Zum Beispiel Magen und Darm. Das macht den Stress regelrecht körperlich spürbar. Nicht umsonst schlägt etwas „auf den Magen“ oder regelt man Dinge „aus dem Bauch“.

Stresssituationen können genauso aus vorgestellten Bedrohungen wie aus tatsächlichen entstehen. Ein Student, der sich seine demnächst bevorstehende Examensprüfung ausmalt, kann dieselben Stressphänomene empfinden wie derjenige, der sich unmittelbar in der Prüfungssituation befindet.

Dass ein Mensch unter Stress steht, ist dabei auch nach außen erkennbar. In einer akuten Stresssituation werden die Pupillen größer, damit das Auge mehr Licht auffangen und besser sehen kann. Der Adrenalinausstoß führt zu Schweißausbrüchen, die den erhitzten Körper kühlen sollen. Dabei handelt es sich mitunter um solche Stöße, die den Stress von einem Moment auf den anderen riechbar machen („Angstschweiß“).

Anspannung ohne Entspannung

Die Umstellungen sollen den Menschen für die Stresssituation wappnen. Im Stress wird der Körper vom Normal- auf Hochleistungsbetrieb umgestellt. Sozusagen „volle Kraft voraus“ zur Vorbereitung auf die bevorstehende Konfrontation mit der Stressquelle oder zur Flucht vor ihr. In der Auseinandersetzung, für die der Körper ja nun bestens vorbereitet ist, löst sich die Anspannung im Idealfall auf.

Das Problem des zivilisierten Menschen besteht darin, dass diese Auflösung oft unterbleibt. Ein körperlicher Kampf gegen die Stressquelle findet nicht statt. Gegen Terminnot oder Bestehensangst ist eben schlecht körperlich anzukämpfen, gegen einen unangenehmen Chef oder Mitarbeiter empfiehlt sich dies schon gar nicht. Kein Kampf, keine Flucht – die Energie wird aufgebracht, aber nicht entladen. Die Alarmbereitschaft hört nicht auf, Körper und Geist bleiben angespannt und die Anspannung löst sich nur langsam. Schlimmstenfalls erst bis zur nächsten Stresssituation, deren Anspannung ebenfalls wieder lange anhält, weil sie sich nicht entladen kann. Dauerstress – die Folge: Der Körper läuft viel zu lange auf Hochtouren. Die als vorübergehend vorgesehenen Funktionsumstellungen geraten zum Normalzustand.

Und der belastet die Gesundheit stark: Der ständig erhöhte Blutdruck führt zu dauerhaftem Bluthochdruck. Die Muskelanspannungen ziehen chronische Verspannungen und Schmerzen nach sich. Das Verdauungssystem aus Magen und Darm gerät durch die häufigen Unterbrechungen durcheinander – Verstopfungen und Magengeschwüre plagen den gestressten Menschen früher oder später. Die Stressreaktion, die den Körper eigentlich für die Konfrontation mit der Stresssituation stärken soll, entwickelt sich zum Bumerang.

Auf angenehme Überraschungssituationen reagiert der Körper übrigens genauso wie auf unangenehme. Ob wir geschlagen oder liebevoll geküsst werden – die körperlichen Reaktionen sind dieselben: Anspannung und stark erhöhte Aufmerksamkeit bei Beschleunigung bzw. Verlangsamung der beschriebenen Körperfunktionen. Allerdings entlädt sich die Anspannung bei angenehmen Stresssituationen leichter – und sei es durch einen Luftsprung, einen Freudentanz oder eine Umarmung.

Ein Archivbeitrag* aus ORTHOpress 1 | 2000
*Archivbeiträge spiegeln den Stand zur Zeit der Erstveröffentlichung wieder. Die aktuelle Einschätzung des Sachverhalts kann durch Erfahrungszuwachs, allgemeinen Fortschritt und zwischenzeitlich gewonnene Erkenntnisse abweichen.