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Knie

Die „Karbonfaserstift-Implantation“

Frau testen die Nutzung ihres Armes beim Arzt

Bis vor wenigen Jahren noch galt der künstliche Gelenkersatz in weiten Kreisen als einzige und letzte Möglichkeit, dem weiteren Verschleiß der Knorpelsubstanz entgegenzuwirken und eine – weit gehend schmerzfreie – Belastung des Gelenkes wieder zu ermöglichen. Eine kausale Therapie, also eine solche, die das Kernproblem selbst, nämlich den degenerierten Knorpel, angeht, wurde für nicht möglich gehalten. Den intensiven Bemühungen der Forschung in diesem Bereich und der medizintechnischen Entwicklung insgesamt ist es zu verdanken, dass heute bereits verschiedene das Knorpelwachstum stimulierende Verfahren zur Verfügung stehen. Den ursprünglichen, sog. „hyalinen“ Knorpel können die modernen Methoden zwar auch nicht wieder „herzaubern“, doch die jeweiligen Techniken sind in vielen Fällen in der Lage – durch die Produktion eines Ersatzgewebes – Beschwerdefreiheit zu bewirken, die Funktion des betroffenen Gelenks zu verbessern und damit den Einsatz einer Endoprothese zu vermeiden oder zumindest längerfristig aufzuschieben.

Grundlegend für die neuen Behandlungsmöglichkeiten ist nach wie vor die Einsicht, dass die Regenerationsfähigkeit des Knorpels sehr gering ist, weil dieser zellarm und blutgefäßlos ist. „Wenn es doch zu einer Reparation kommen sollte, kann diese nur durch die Mitwirkung der Knochenzellen erfolgen, die als Einzige noch über Wachstumspotenz verfügen“, erläutert der in Darmstadt niedergelassene, operativ tätige Orthopäde Dr. Chinta die Ausgangsbasis für eine mögliche Beeinflussung des Knorpelgewebes. „Bei sehr ausgedehnten, bis zum Knochen reichenden Knorpeldefekten – wie dies bei Patienten der Fall ist, die kurz vor dem Einbau eines künstlichen Kniegelenks stehen – ist jedoch der knöcherne Boden hochgradig sklerosiert, d.h. verhärtet, wodurch die Wanderung der für die Reparatur benötigten Knochenzellen stark behindert wird.“

Ein Ausweg aus dieser Situation wurde durch Knochenbohrungen gefunden, die seit einiger Zeit durch die Einpflanzung von mit einer besonderen Umhüllung versehenen Kohlenstoffstiften verbessert wurden. Diese halten die Bohrkanäle offen, fördern die Vermehrung von Reparaturzellen und erleichtern über die spezielle äußere Karbonfaserverflechtung deren Verbreitung auf den Knochendefekt. Die technische Pionierarbeit für Verfahren der Gelenkoberflächen-Erneuerung mittels eines Kohlenstoffgerüstes wurde bereits Anfang der 80er-Jahre im Nordosten Englands (durch den Chirurgen Julian Minns) geleistet. In Deutschland ist das Verfahren, nachdem es hier vom Hertener Unfallarzt und Sportmediziner Winfried Schweinsberg Jahre später eingeführt wurde, unter „Schweinsberg-Methode“ bekannt. Die anfänglichen Vorbehalte gegenüber dem Werkstoff Kohlenfaser sind auf eine gescheiterte Methode der Kreuzbandchirurgie zurückzuführen: Die eingesetzten Kohlefaserprothesen (und Kunststoffprothesen) führten hier zu derart massiven Reizerscheinungen und Entzündungen, dass sie sämtlich wieder entfernt werden mussten. Heute handelt es sich bei den Karbonstiften um hochgereinigte areaktive Produkte aus der Weltraumforschung, solche Entzündungen sind daher weitgehend auszuschließen. „Der Stift unterstützt den biologischen Umbauprozess ideal, auch weil er chemisch inaktiv ist“, erläutert Dr. Schweinsberg. Der Stift fungiert sozusagen als Klettergerüst für junge „kollagene“ Fasern, die sich an dessen Ummantelung entlang an der Knorpeloberfläche ausbreiten. Das so resultierende „neue“ Knorpelgewebe heißt „Faserknorpel“ und verfügt über eine etwas geringere Belastbarkeit als diejenige des hyalinen Knorpels. „Die Methode stellt jedoch zum jetzigen Zeitpunkt die beste bioverträgliche Alternative für die Behandlung ausgedehnter Knorpelschäden dar, vor allem der sich gegenüberliegenden oder an mehreren Orten befindenden Defekte. Eine andere Therapiemöglichkeit solcher Schäden besteht nur noch in dem Einbau eines künstlichen Gelenks“, so der Frankfurter Orthopäde Dr. Frömel.
Die Karbonfaserstift-Implantation vermag also das zu leisten, wo andere, ebenfalls sehr junge Methoden zur Stimulierung des Knorpelwachstums an ihre Grenzen gestoßen sind, und ist daher besonders für ältere Patienten mit ausgedehntem Knorpelschaden von unschätzbarem Wert. So lassen sich mittels der sog. Abrasionsarthroplastik oder der Knorpel-Knochen-Transplantation tiefreichende Knorpeldefekte nur geringer Ausdehnung behandeln. Bei der Abrasionsarthroplastik handelt es sich um ein Verfahren zur Behandlung von Knorpelschäden 4. Grades, d.h. solchen, die bis zum Knochen reichen, wobei der Knochen im Bereich des erkrankten knorpellosen Areals derart abgefräst wird, dass sich in der abradierten Region eine Art Knorpelnarbe, bestehend aus minderwertigem Faserknorpel, bildet. Die Belastbarkeit des sog. Knorpelregenerates liegt bei ca. 60% des gesunden hyalinen Knorpels. In der Nachbehandlung ist hier u.a. eine maximale Entlastung des Beines für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten mittels Unterarmgehstützen erforderlich, um die Ausbildung des neuen Knorpels nicht zu gefährden. Dagegen ist das operierte Kniegelenk bei der Karbonstift-Methode sofort postoperativ belastbar.

Bei der Knorpel-Knochen-Transplantation werden im Bereich des tiefreichenden Knorpeldefekts Knochenzylinder herausgeschlagen und durch Knorpel-Knochen-Zylinder, die einer Region mit wesentlich geringerer Gelenkbelastung und guter knorpeliger Abdeckung entnommen werden, ersetzt. Die transplantierten Zylinder verwachsen mit dem Umgebungsknochen, die Knorpelkappe füllt den früheren Defekt aus und wird über ein faseriges Granulationsgewebe an den Umgebungsknorpel verankert. Daraus resultiert ein Knorpel-Faserknorpel-Konglomerat, dessen Belastbarkeit bei ca. 95–97% des gesunden hyalinen Knorpels liegt. Die Anwendungsmöglichkeiten sind hier allerdings nicht allein durch das Ausmaß der Knorpelschädigung begrenzt: Bereits aus operationstechnischen Gründen lassen sich nur bestimmte Areale erreichen und das Verfahren kommt zudem von vornherein nur bei relativ jungen Patienten bis spätenstens Mitte Fünfzig in Frage. Im indizierten Fall einer Karbonfaserstiftung – bei der es keine Größen- und Altersbegrenzung gibt – wird an den großflächigen Stellen mit totalem Knorpeldefekt der bloßliegende, verhärtete Gelenkknochen bis in das normal durchblutete Knochengewebe mehrfach durchbohrt und in die Bohrkanäle werden dann die Karbonfaserstifte eingeführt. Diese geflochtenen und gewobenen Stifte – aus einem neutralen Naturprodukt – quellen rasch auf und verhindern eine Nachblutung. Sie regen gleichzeitig das Wachstum von Bindegewebszellen aus der Tiefe an, die sich, an der Gelenkoberfläche angelangt, durch Gelenkbewegung in Knorpel umwandeln und so die vorherigen Knorpeldefekte wieder auffüllen. Bereits nach vier Wochen lässt sich diese aktive Regeneration im Gelenk nachweisen. „Im Endergebnis hat man nach einigen Monaten eine neue knorpelige Gelenkoberfläche“, so Dr. Chinta. „Und dabei handelt es sich um einen relativ kleinen Eingriff, der durchweg arthroskopisch durchgeführt werden kann.“In der Nachbehandlung ist zur Unterstützung des regenerativen Prozesses eine stetig zunehmende Beinbelastungssteigerung vorgesehen, ggf. die Maßnahme einer „passive motion“ (PCM), also die geführte, lastfreie Bewegung des Beines mit Hilfe einer Motorbewegungsschiene, und nach Abschluss der Wundheilung gelten schließlich Fahrradfahren sowie Bewegungs­übungen im Wasser als hilfreich. Gelenkspritzen mit Hyaluronsäure sowie Verfahren der Pulsierenden Signaltherapie können dabei unterstützend zur Anregung der Regeneration beitragen. Klinische und kernspintomografische Untersuchungen ermöglichen dabei die Verlaufsbeurteilung des Heilungsprozesses. Da die Implantation der Karbonfaserstifte mittlerweile im gesamten Gelenk arthroskopisch und sogar ambulant durchgeführt werden kann, ist diese Art der Operation besonders schonend, der postoperative Verlauf in den allermeisten Fällen einfach und komplikationslos.

„Etwa 80 Prozent meiner Patienten geht es inzwischen besser“, sagt Dr. Frömel, „manche sind sogar beschwerdefrei“. Seine Erfahrungen decken sich auch mit den klinischen Studienergebnissen ausländischer Untersuchungen. Alle bisherigen Studien belegen, dass dieses Operationsverfahren den evtl. später doch noch notwendig werdenden Einbau eines künstlichen Gelenks nicht beeinträchtigt, und Ergebnisse aus England und Schweden zeigen darüber hinaus, dass der künstliche Ersatz des gesamten Gelenkes dadurch um bis zu 15 Jahre aufgeschoben werden kann.

Dr. Chinta und Dr. Frömel resümieren die vorliegenden Ergebnisse: „Wir bieten diese Therapiemethode allen Patienten an, die auf Grund der Schadensgröße vor der Entscheidung stehen, mit einem künstlichen Gelenk versorgt zu werden, und dies nicht wünschen oder es aus einem anderen Grund für nicht sinnvoll erachten. Sie stellt eine durchaus erstrebenswerte Kompromisslösung dar, bevor die Endoprothese zum Einsatz kommen sollte.“

Ein Archivbeitrag* aus ORTHOpress 1 | 2000
*Archivbeiträge spiegeln den Stand zur Zeit der Erstveröffentlichung wieder. Die aktuelle Einschätzung des Sachverhalts kann durch Erfahrungszuwachs, allgemeinen Fortschritt und zwischenzeitlich gewonnene Erkenntnisse abweichen.