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Rücken

Bestrahlung gegen Narbenbildung

Sport injury, Man with back pain

Im letzten Jahrzehnt ist die „offene“ Bandscheibenoperation, bei der unter direkter Aufsicht ein Fenster von mehreren Zentimetern Größe in der Wirbelsäule eröffnet wird, immer stärker von so genannten „minimal-invasiven“ Verfahren abgelöst worden. Bei diesen wird das vorgefallene Bandscheibengewebe oftmals durch einen nur wenige Millimeter großen Zugang entfernt. Die Beschränkung auf eine winzige Öffnung bei der Operation hat nicht nur kosmetische Gründe: Fast fünf Prozent aller Patienten müssen später an der gleichen Stelle ein zweites Mal operiert werden, weil sie bereits nach kurzer Zeit wieder einen ganz ähnlichen Schmerz verspüren. Dabei ist in den meisten Fällen nicht etwa der Eingriff misslungen: Schuld an dem Auftreten der Schmerzen ist oft die Bildung von Narbengewebe. Aber auch für solche Patienten gibt es nun Hoffnung. ORTHOpress sprach in Aachen mit dem Neurochirurgen Dr. Paul Sanker und Dr. Holger Tschakert, Facharzt für Radiologie, Neuroradiologie und Strahlentherapie über die Möglichkeit der Narbenvermeidung durch Bestrahlung.

Herr Dr. Sanker, wie entsteht die gefürchtete Vernarbung nach einer Bandscheibenoperation?

Dr. Sanker: Sie müssen sich vorstellen, dass bei der „offenen“ Wirbelsäulenoperation eine relativ große Menge Knochenmasse abgetragen werden muss, um dem Operateur mit seinen Instrumenten einen mehr oder weniger ungehinderten Zugang zum Bandscheibenvorfall zu erlauben. Nach dem Eingriff entsteht an dieser Stelle dann ein richtiggehendes Loch. In diese Wundhöhle schießen Blut und bindegewebige Zellen ein, denn der Körper versucht ja, die entstandene Verletzung zu heilen. In diesem Blutkuchen wachsen dann Äderchen, welche den „Heilungsprozess“ weiterhin mit Blut versorgen. Aus den in diese Region geschwemmten Eiweißbausteinen und Enzymen entsteht dann eine aussprossende Narbe, ein so genanntes Granulationsgewebe.

Aber warum führt das zu Problemen? Bei fast jeder Verletzung entsteht doch eine kleine Narbe.

Dr. Tschakert: Bei einer offenen Bandscheibenoperation entsteht beinahe zwangsläufig eine Mikroinstabilität an der Wirbelsäule – schließlich sind ja vier bis fünf Zentimeter Knochen am Wirbelbogen oder sogar an den Dornfortsätzen reseziert worden. Beim Versuch, diese Instabilität zu kompensieren, entsteht dann ein überschießendes, hartes Narbengewebe. Dieses kann dann den Nerv, der ja bei der Bandscheibenoperation eigentlich entlastet werden sollte, seinerseits wieder bedrängen. Der Patient hat dann wieder ganz ähnliche Schmerzen wie vorher.

Wie kann man feststellen, ob die Schmerzen von einer Vernarbung herrühren oder aber vielleicht eine ganz andere Ursache haben?

Dr. Sanker: Beim typischen Verlauf einer schmerzhaften Narbenbildung ist der Patient nach der Operation zunächst für einige Monate schmerzfrei, denn die Nervenkompression, die zu den Schmerzen geführt hat, wurde ja erfolgreich beseitigt. Nach etwa sechs bis neun Monaten zeigen sich dann immer heftiger werdende Schmerzen an der gleichen Stelle wie vorher. Dies führt dann auch zu der oft geäußerten Annahme, die Operation habe „nichts gebracht“, weil die Schmerzen ja wiedergekommen seien. Es sind aber nicht die alten, sondern „neue“ Schmerzen, welche durch das inzwischen herangewachsene Narbengewebe entstehen. 

Wie kann man nun solchen Patienten helfen?  

Dr. Tschakert: Eine Möglichkeit ist, in einem zweiten kleinen Eingriff die Narbe zu beseitigen und so den Nerv wieder zu befreien (Neurolyse). Das Problem hierbei ist jedoch, dass ohne eine adäquate Nachbehandlung innerhalb kürzester Zeit an der gleichen Stelle wieder eine Vernarbung auftritt.

Wie kann man das verhindern?  

Dr. Sanker: Eine Möglichkeit dazu ist die Verwendung eines Anti-Narben-Gels, mit welchem der Nerv umkleidet wird. Dies führt dazu, dass das entstehende Narbengewebe quasi um den Nerv herumwächst und so eine Art „Führungshülse“ schafft, in welcher der Nerv ungehindert gleiten kann und nicht bedrängt wird. Die Erfolge mit diesen Präparaten werden jedoch kontrovers diskutiert, und es gibt auch Kontraindikationen, die den Einsatz verbieten, z.B. eine Perforation der Dura. Eine andere Methode besteht darin, unmittelbar postoperativ (d.h. einen Tag später) über etwa vier Tage hinweg eine Bestrahlung des Operationsgebietes vorzunehmen. Diese stört den Gewebsaufbau der Fibroblasten und verhindert so, dass eine neue Narbe entsteht. 

Beim Wort Bestrahlung denkt man natürlich unwillkürlich an Krebs. Wie hoch ist die Strahlendosis, mit welcher bestrahlt werden muss?

Dr. Tschakert: Die Belastung für den Patienten liegt bei dieser Bestrahlung nur bei etwa sechs Sievert; sie ist also deutlich geringer als bei der Krebstherapie. Zudem ist das bestrahlte Gebiet exakt begrenzt: Nach einer genauen Winkel-, Tiefen- und Querschnittsberechnung findet die Bestrahlung nur im Narbenfeld statt. Eine Beeinträchtigung anderer Teile des Körpers erfolgt daher nicht.

Warum kann man nicht ohne einen vorherigen Eingriff einfach die Narbe bestrahlen? Das wäre doch viel einfacher: Der Patient müsste sich nicht nochmals einer Operation unterziehen.

Dr. Sanker: Ohne eine vorherige Neurolyse würde die Bestrahlung keinen Sinn machen, denn durch die relativ geringe Strahlendosis wird ja nicht – wie etwa bei einer Tumorbestrahlung – Gewebe zerstört. Es werden lediglich die Botenstoffe und Gewebsbausteine (sog. „omnipotente Bindegewebszellen“) daran gehindert, eine Narbe auszubilden. 

Aber was passiert, wenn sich keine Narbe bilden kann? Heilt dann die Wunde überhaupt?

Dr. Tschakert: Nochmals: Es werden bei dieser Technik keine Zellen in irgendeiner Weise zerstört. Es tritt auch keine Wundheilungsstörung auf. Man muss hier differenzieren: Eine große Narbenbildung ist nicht Zeichen einer besonders „guten“ Wundheilung. Sie kennen das Problem vielleicht, wenn Sie schon einmal eine größere Schnittverletzung an der Hand oder am Bein hatten: In der Regel werden später auftretende Befindlichkeitsstörungen umso geringer sein, je kleiner die Narbe ist. Die durch die Bandscheibenoperation entstandene Mikroinstabilität kann später viel besser durch eine sinnvolle Trainingstherapie ausgeglichen werden, in welcher Muskel- und Bandapparat gestärkt werden.

Herr Dr. Sanker, Herr Dr. Tschakert, herzlichen Dank für dieses Gespräch!

aus ORTHOpress 1 |2002

Alle Beiträge dienen lediglich der Information und ersetzen keinesfalls die Inanspruchnahme eines Arztes*in. Falls nicht anders angegeben, spiegeln sie den Stand zur Zeit der Erstveröffentlichung wider. Die aktuelle Einschätzung des Sachverhalts kann durch Erfahrungszuwachs, allgemeinen Fortschritt und zwischenzeitlich gewonnene Erkenntnisse abweichen.