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Krankheitsbilder

Wie vom Blitz getroffen: Der Schlaganfall und seine Folgen

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Es begann mit rasenden Kopfschmerzen, Übelkeit stieg auf, alles drehte sich. Kalter Schweiß trat aus den Poren. Der rechte Arm wurde taub, gehorchte dem Willen nicht mehr. Angst. Das Telefon! Mühsames Aufrichten, das rechte Bein versagte seinen Dienst, das Telefon rückte in weite Ferne. Plötzlich kam das Dunkel und alles ward Nacht …

Erwachen. Der Druck im Kopf war verschwunden, Speichel rann übers Kinn, rechts im Körper war ein seltsames Vakuum, wie in zwei Hälften geteilt, nein, rechts war eigentlich keine Seite mehr da …

Dieses oder ein ähnliches Szenario erleben in Deutschland jährlich nahezu 250.000 bis 300.000 Menschen; ein Zehntel davon ist unter 40, etwa die Hälfte steht mitten im Berufsleben, für ein Drittel gibt es kein Erwachen mehr. Die Betroffenen hat, wörtlich genommen, der Schlag getroffen: Sie erlitten einen Hirnschlag oder Schlaganfall, denn so wird das meist plötzliche Eintreten eines solchen oben aufgeführten Symptombildes im klinischen Sprachgebrauch gemeinhin genannt. Zugrunde liegt eine Unterbrechung der Blutzufuhr zu Teilen des Gehirns, welche zu Sauerstoffmangel führt, und, wenn es nicht gelingt, diesen binnen kurzer Frist zu beheben, zur irreversiblen Schädigung des unterversorgten Hirngewebes 80 Prozent der Schlaganfallpatienten bleiben nachhaltlich auf irgendeine Weise behindert, etwa ein Drittel davon schwer, so dass sie auf ständige oder teilpflegerische Hilfe angewiesen sind. 

Zwei Formen der Apoplexia cerebri, so der medizinische Terminus für Schlaganfall, sind zu unterscheiden: zum einen die Unterversorgung auf Grund eines arteriellen Gefäßverschlusses (ischämischer Hirninfarkt), zum anderen die einer Gehirnblutung durch das Platzen eines kleinen Blutgefäßes. Hierbei wird unterschieden zwischen einer Hirnmassenblutung und der so genannten Subarachnoidalblutung, einer Blutung in den Raum zwischen der den Gehirn anliegenden weichen Hirnhaut und der Spinngewebehaut (Arachniodea), als deren Ursache oft Gefäßmissbildungen an der Schädelbasis genannt werden. Neben Gefäßanomalien (u.a. Aneurysmen) oder Tumoren sind Kopfverletzungen und zunehmend auch Drogenmissbrauch – vor allem Kokain – Gründe für eine Hirnblutung.

Die häufigste Ursache jedoch bleibt der Bluthochdruck. Beständiger Bluthochdruck über längere Zeit vermindert die Plastizität der Gefäßwände. Spontan auftretende Blutdrucksteigerungen oder körperliche Anstrengung lösen dann die Ruptur eines Gefäßes aus. Begünstigt werden Blutungen zudem durch Blutgerinnungsstörungen oder die Einnahme von blutverdünnenden Medikamenten.

Gefährdete

Die überwiegende Zahl aller Hirninfarkte, fast 80 Prozent, geschehen durch einen Gefäßverschluss (Thrombose). Hauptursache für starke Verengungen in Halsschlagadern oder Hirnarterien selbst, sind – wie beim Herzinfarkt – Ablagerungen einer Verbindung aus Blut- und Fettbestandteilen an den Gefäßwänden (Arteriosklerose). Aber auch einschwemmende Blutgerinnsel aus anderen Körperregionen sind verantwortlich für meist vollständig verlegte Hirnleitungsbahnen (Embolie).

Arteriosklerotische Gefäßveränderungen sind eine Zivilisationsplage und oft Folge eines bestimmten Lebensstils. Besonders gefährdet sind Personen mit hohem Blutdruck, Übergewicht, Herzrythmusstörungen, erhöhten Blutfettwerten (Cholesterin, Triglyzeriden) und Blutzuckerwerten (Diabetiker); Nikotin, Alkohol- und Drogenkonsum (Kokainmissbrauch!), Bewegungsmangel und Stress erhöhen das Arterioskleroserisiko nochmals um ein Vielfaches. Aus der Gruppe der Apoplektiker unter 40 Jahren nehmen Frauen den größten Anteil ein. Auffällig ist, dass mit wenigen Ausnahmen alle Raucherinnen waren, welche Ovulationshemmer (die »Pille«) einnahmen. Die jüngsten Patientinnen, welche der Autor selbst nachbehandelt hat, waren gerade mal Anfang 20!

Der Cortex – Landkarte der Fähigkeiten

Das Gehirn ist eine Ansammlung von Nervenzellen, die mit der Steuerung der meisten Vorgänge des Körpers befasst sind. Über die Funktionsweise dieses komplizierten Organs ist zwar vieles noch unbekannt, doch ist zum großen Teil erforscht, welche Bereiche für die Umsetzung bestimmter Leistungen zuständig sind.

Leistungen wie Motorik, Sensorik (Empfindungsfähigkeit), Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Sprechen sind in entsprechenden Zentren in der Rinde des Großhirns, dem Cortex, angesiedelt. In den Rindenfeldern für Motorik und Sensorik ist der gesamte menschliche Körper abgebildet wie auf einer Landkarte, wobei Bereiche, die sehr fein kontrolliert und gesteuert werden müssen, wie Hand, Lippen oder Zunge, überproportional repräsentiert sind.

Anders als bei den meisten Tieren haben die beiden Hirnhälften (Hemisphären) beim Menschen unterschiedliche Aufgaben und entwickeln sich abhängig von der Händigkeit (links oder rechts) funktionell asymmetrisch. Die meisten Funktionen des Cortex laufen kontralateral ab, das heißt die linke Körperseite wird von der rechten Gehirnhälfte gesteuert und umgekehrt. Beim typischen Rechtshänder entwickelt die linke Gehirnhälfte eine gewisse Dominanz. Dort werden das Sprach- und Schreibzentrum angelegt und überwiegend analytische Funktionen abgehandelt, während räumlich und ganzheitlich verknüpfte Verarbeitung (Syntheseleistung) typisch für die rechte Hemisphäre ist. Gewöhnlich ist die Kommunikation zwischen den beiden Hemisphären gut entwickelt und »Aufträge« werden nach Zuständigkeit vergeben und verteilt.

Die Koordination einzelner Bewegungen im Sinne der Fein- und Grobmotorik und das Bewahren des Körpergleichgewichtes beispielsweise ist keine kortikale Leistung mehr, sondern eine Funktion des Kleinhirns; ebenso die Regelung von Atmung und Kreislauf, sie findet im unteren Teil des Gehirns statt.

Die Vielfalt der Folgen

Die Folgen eines Hirninfarktes sind so vielfältig wie die Leistungen des Gehirns an sich; sie alle vorzustellen würde den Rahmen gänzlich sprengen, was gleichermaßen auch für die Behandlungsmöglichkeiten gilt. Das Ausmaß und die Art der körperlichen Beeinträchtigung wird maßgebend bestimmt durch die Größe und Funktion des geschädigten Hirnareals.

Das bekannteste Symptom des Schlaganfalls ist die Lähmung; und da, wie schon erwähnt, die Steuerung der Körperhälften wechselseitig auf die Gehirnhälften verteilt ist, kommt es typischerweise zu einer halbseitigen Lähmung der Muskulatur auf der Gegenseite. Der Grad der Lähmung, abhängig von der Anzahl der zerstörten Nervenzellen und deren Lokalisation, kann von einer leichten Schwäche bis zum kompletten Funktionsausfall der betroffenen Körperseite reichen. Das Vollbild einer motorischen Lähmung bezeichnet man als Hemiplegie.

Darüber hinaus bezieht sich eine weitere Unterscheidung auf die Qualität der Lähmung: Anfänglich liegt meist eine schlaffe Lähmung vor, das heißt, es ist keine Muskelspannung (Tonus) mehr vorhanden. Im weiteren Verlauf und ohne entsprechende Therapie kann es zur Freisetzung tonischer Reflexaktivitäten kommen, welche eine Dauerkontraktion (Spastik) ganzer Muskelgruppen hervorrufen und sich zu den für das Krankheitsbild typischen spastischen Beugemuster der oberen Extremität und Steckmuster der unteren Extremität entwickeln.

Verbunden mit Störungen der Motorik sind fast immer Störungen der Empfindungsfähigkeit, sprich Beeinträchtigungen der Oberflächen- und Tiefensensibilität. »Kribbeln«, Taubheitsgefühl, Schweregefühl, der Verlust von Wärme- und Kältempfindung, die Unfähigkeit, Strukturunterschiede von Materialien zu ertasten, sowie das Gefühl, ein Teil des Körpers gehöre nicht mehr zu einem, prägen das Bild der Sensorikstörungen.

Bei zwei Drittel aller Schlaganfallpatienten ist der für die Sprache zuständige Teil des Gehirns betroffen. Je nach Ausmaß der Hirnschädigung sind alle Schweregrade einer Sprachstörung, im Fachlichen Aphasie genannt, möglich – von der leichten Wortfindungsstörung bis hin zum totalen Verlust der Sprache. Dabei kann sowohl die Sprachproduktion (motorische Aphasie) wie auch das Sprachverständnis (sensorische Aphasie) betroffen sein. Die besondere Problematik der Aphasie besteht darin, dass der Betroffene nicht begreifen kann, dass seine Umwelt ihn nicht versteht – eine schwierige Situation für Patient und Umfeld.

In besonderem Maße belastend für Schlaganfallpatienten wirken sich Schädigungen von Gehirnbezirken aus, welche nicht den primären Ausfall eines ausführenden Organs (Muskulatur) oder Sinnesorgans nach sich ziehen, sondern Defizite analytischer, assoziativer, kognitiver (wahrnehmungsbezogener) oder praktischer Vorgänge hervorbringen. Zu diesen gehören unter anderem Störungen des Schreibens (Agraphie), Lesens (Alexie), Rechnens (Akalkulie), Erkennens (Agnosie) und der Handlungsplanung (Apraxie).

Von Apraxie betroffene Personen sind nicht oder nur bedingt in der Lage, komplizierte Bewegungsabläufe durchzuführen. Ihnen ist die Fähigkeit abhanden gekommen, eine Handlung zu planen, die für die Durchführung notwendigen Bewegungen im Gehirn zu entwerfen, in eine logische Reihenfolge zu bringen und Einzelbewegungen zu einem flüssigen Ablauf zusammenzusetzen. Die scheinbar einfachsten Handlungen des alltäglichen Lebens, wie Anziehen eines Pullovers oder Schmieren eines Brotes, werden nahezu unmöglich; zudem werden Gegenstände und Objekte nicht selten in falscher Weise verwendet oder deren Funktion nicht erkannt.

Kennzeichnend für Schädigungen vor allem der rechten Hirnhemisphäre sind Störungen der räumlichen Orientierung und primären Körperwahrnehmung. Die Fähigkeit, seinen Körper und dessen Bewegung zu empfinden und räumlich zu integrieren, ist unbedingte Voraussetzung, Bewegung zu planen, gezielt und angepasst umzusetzen. Wahrnehmungsstörungen, welche in unzähligen Variationen zum Ausdruck kommen können, sind oftmals eine ernst zu nehmende Hürde bei der Rehabilitation verloren gegangener Fähigkeiten.

Dies gilt gleichermaßen für die ebenfalls stärker rechtshemisphär als links induzierten halbseitigen Vernachlässigungsphänome einer Raum- und/oder Körperseite, welche unter dem Begriff Neglect zusammengefasst werden. Schwere Neglectformen führen zu einem Nichterkennen und daher völligen Negieren der eigenen Krankheitssymptome.

Vorboten

Ein Schlaganfall kommt fast niemals »aus heiterem Himmel«, ausgenommen diejenigen, welche eine Hirnblutung als Ursache haben. In den meisten Fällen eines drohenden Gefäßverschlusses sendet der Körper Warnsignale aus, die leider viel zu selten als Bedrohung empfunden und dementsprechend nicht ernst genommen werden, vor allem deswegen, weil sie vorübergehender Natur sind.

Plötzlich einsetzende Sehausfälle, Doppelbilder, Sprach- und Wortfindungsstörungen, Sensibilitätsstörungen und Taubheit, Bewusstseinseintrübungen, Drehschwindel, Gangunsicherheit und Lähmungserscheinungen, einzeln auftretend oder in Kombination, können Anzeichen eines bevorstehenden Schlaganfalls sein. Dauern diese Symptome zwischen einigen Minuten und 24 Stunden an und bilden sich vollständig zurück, spricht man von einer transitorischen (vorübergehenden) ischiämischen Attacke (TIA); bestehen sie länger als 24 Stunden und bilden sich ebenfalls vollständig zurück, klassifiziert man sie als prolongiertes (verlängertes) reversibles ischiämisch bedingtes neurologisches Defizit (PRIND). In beiden Fällen ist Gefahr im Verzuge und das Aufsuchen eines Arztes (Hausarzt, Internist, Neurologe) zwingende Notwendigkeit, um ernsten Folgen zuvorzukommen.

Nimmt die neurologische Symptomatik im Sinne von Beeinträchtigungen der Motorik, Sensibilität und des Bewusstseins zu (progressive stroke) oder kommt es zu keiner oder nur unvollständigen Rückbildung der Ausfälle (completed stroke), ist der Ernstfall eingetreten.

Jede Minute zählt

Nervenzellen reagieren von allen Körperzellen am empfindlichsten auf Sauerstoffmangel. Nach etwa drei bis vier Minuten ohne Sauerstoff sind die ersten Zellen – und damit ihre Funktion – unwiederbringlich zerstört; je länger dieser Zustand anhält, desto mehr Nervengewebe geht zunichte. Entscheidend also ist in der Akutphase des Schlaganfalls das rechtzeitige und sichere Erkennen der Erkrankung und eine frühestmögliche Behandlung.

Am Beispiel von Hirnarterienverschlüssen haben Untersuchungen gezeigt, dass nur diejenigen Patienten von einer medikamentösen Wiedereröffnung der Gefäße profitierten, welche innerhalb eines Zeitfensters von drei Stunden nach Eintreten der Symptome behandelt wurden. Mehr als ein Drittel der Patienten blieben nach 90 Tagen ohne Nervenschäden oder wiesen nur geringe Defekte auf. Die beste Aussicht auf eine optimale (Erst-) Versorgung bieten in den Hochleistungskrankenhäusern speziell eingerichtete Akutstationen für Schlaganfallpatienten – die so genannten Stroke Units. Nach einem Modell der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) verfügen Stroke Units gewöhnlich über ein interdisziplinäres Team aus Neurologen, Internisten, Röntgenologen, Neurochirurgen und fachbezogen geschultem Pflegepersonal. Alle erforderlichen diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen, bis hin zur gefäß- und neurochirurgischen Eingriffsmöglichkeit bei schweren Verschlüssen oder Hirnblutungen, sind in 24-Stunden-Bereitschaft vorhanden. Notfallmediziner und Ärzte kennen in der Regel die nächstgelegene Stroke Unit.

Lassen Anamnese, neurologische Untersuchung und Blutbild schon auf einen »Stroke« schließen, geben doch nur die bildgebenden Verfahren wie Kernspin-, Computertomographie oder eine Gefäßdarstellung (Angiogramm) hinreichend Aufschluss über Art und Umfang des Infarktes und das weitere Vorgehen.

Das Wiedereröffnen des Gefäßes im Falle eines Verschlusses und der Schutz des gesunden Hirngewebes sind die wichtigsten Behandlungsziele in der Akutphase, will man die zu erwartenden Folgen des Schlaganfalls so gering wie möglich halten. Die Auflösung des Blutgerinnsels (Thrombolyse) durch die Gabe entsprechender Medikamente direkt in das verlegte Gefäß ist die vielleicht wirksamste Therapiemaßnahme, jedoch ist sie technisch sehr kompliziert und birgt Risiken. Die Lyse-Therapie ist allerdings nur sinnvoll innerhalb der ersten sechs Stunden nach Beginn der Symptome, danach ist ihre Wirksamkeit fraglich.

Unabhängig davon werden Präparate wie Heparin oder Acetylsalicylsäure verabreicht, welche die Neubildung von Blutgerinnseln oder die Vergrößerung der vorhandenen verhindern sollen, und solche, welche die Gerinnbarkeit des Blutes herabsetzen (Antikoagulantien). Ferner spielen Überwachung und Einstellung des Blutdrucks und des Blutzuckers eine wichtige Rolle zur Verhinderung weiterer Hirninfarkte.

Wiederherstellung

Das Gehirn, mag es auch geschädigt sein, bleibt weiterhin lernfähig – und zwar ein Leben lang. Vieles, was nach einem Schlaganfall an Hirnfunktion eingebüßt und verloren scheint, lässt sich, wenn auch nur selten komplett, so doch in einem gewissen Rahmen reaktivieren.

Die Komplexität des Krankheitsbildes macht, je nach Art und Umfang der geschädigten Hirnareale, das Zusammenwirken unterschiedlicher medizinischer Berufsgruppen erforderlich. Ärzte, Pflegekräfte, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Logopäden (Sprachtherapeuten) und Neuropsychologen bilden gemeinsam das therapeutische Team, das zusammen mit dem Patienten, seinen Angehörigen und Freunden an der Verbesserung seiner Situation arbeitet. Im Zentrum der Rehabilitation stehen die neurophysiologischen und neuropsychologischen Behandlungskonzepte.

Das bekannteste und bislang Erfolg versprechendste neurophysiologische Behandlungskonzept ist jenes von der Gymnastiklehrerin Berta und dem Neurologen Karel Bobath, das in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts empirisch entwickelt wurde und bis heute ständig weiterentwickelt wird. Ziel der Arbeitweise nach dem Bobath-Konzept ist das Wiedererlernen verloren gegangener Bewegungsfähigkeiten. Es beinhaltet die Hemmung von spastischen und abnormen Haltungs- und Bewegungsmustern, die Verbesserung der Koordination zwischen hemiplegischer und nicht betroffener Seite, die Entwicklung von Körpersymmetrie und Körpermitte, das Fördern von Selbstständigkeit und Sicherheit in alltäglichen Situationen sowie die Sensibilisierung des Tastsinns.

Ein Grundsatz des Bobath-Konzeptes ist das Miteinbeziehen der betroffenen Seite in sämtliche alltäglich wiederkehrende Aktivitäten, sei es Waschen, Hygiene, Ankleiden, Nahrungsaufnahme, Sitzen, Stehen oder Gehen. Damit so viele motorische Fähigkeiten wie möglich erhalten bleiben, wird mit diesem situativen Training unter Anleitung von Physiotherapeuten bestenfalls schon am Tag 1 nach dem Schlaganfall begonnen. Kann der Patient seine plegische Seite nicht aktiv einsetzen, müssen Therapeuten und Pflegepersonal ihn führen.

Ein weiterführendes Selbsthilfetraining und später ein Haushalts- und Einkaufstraining gehören mit zum Programm, im Falle des Vorhandenseins einer Schreib-, Lese- oder Rechenschwäche ist der Einsatz von Ergotherapie notwendig.

Kognitive Leistungseinbußen wie Störung der Wahrnehmung, Orientierung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Planung und Problemlösung werden durch das Bobath-Konzept allein nicht in ausreichendem Maße erfasst. Hier müssen Konzepte aus dem Bereich der Neuropsychologie und Wahrnehmungsschulung (z.B. nach Affolter) das Therapiespektrum erweitern.

Der Neuropsychiater Carlos Perfetti hat spezielle kognitiv therapeutische Übungen entwickelt, die Perfetti-Methode, welche Tastsinn und Tiefensensibilität anregen, die bei der Organisation von Bewegungen eine sehr bedeutende Rolle spielen. Bewegung muss im unmittelbaren Zusammenhang mit geistigen Prozessen gesehen werden; je mehr es gelingt, kognitive Fähigkeiten wiederherzustellen, desto besser werden Bewegungsplanung und Bewegungskontrolle.

Ein langer Weg

Für die meisten vom Schlaganfall Betroffenen ändert sich das Leben von einer Minute zur anderen – oft für immer. Viele werden aus dem Arbeitsleben gerissen oder aus ihrem sozialen Umfeld. Und für nicht wenige bedeutet es im wahrsten Sinne des Wortes, ganz von vorne anzufangen. Was es heißt, einen Teil seines Körpers nicht mehr zu spüren, die einfachsten Bewegungen, die selbstverständlichsten Tätigkeiten oder das Sprechen neu zu erlernen, kann man als gesunder Mensch nicht nachempfinden.

Die Energie, wieder von vorne anzufangen, den Mut, sich täglich aufs Neue seiner Situation zu stellen, die schier endlose Geduld, sich mühsam Fertigkeiten wieder zu erarbeiten, und die Kraft, mit Enttäuschungen umzugehen, all dies aufzubringen, erfordert sehr viel Durchstehvermögen und einen starken Willen.

Manchmal muss ein langer Weg gegangen werden für ein kleines Wunder – aber eben ein Wunder.

aus ORTHOpress 2 | 2002

Alle Beiträge dienen lediglich der Information und ersetzen keinesfalls die Inanspruchnahme eines Arztes*in. Falls nicht anders angegeben, spiegeln sie den Stand zur Zeit der Erstveröffentlichung wider. Die aktuelle Einschätzung des Sachverhalts kann durch Erfahrungszuwachs, allgemeinen Fortschritt und zwischenzeitlich gewonnene Erkenntnisse abweichen.

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