Der aufrechte Gang ist die charakteristische Fortbewegungsweise des Menschen. An ihm lesen wir in früher Jugend den Stand seiner Entwicklung ab; im Alter die einem Menschen noch verbliebene Kraft und Ausdauer. Gewandtheit und Schnelligkeit der Bewegung sind dabei Gradmesser für Reaktionsvermögen und Koordinationsfähigkeit, das sichtbare Zusammenspiel von Sehnen und Muskeln gar Ausdruck von Rangordnung und Attraktivität.
Ein Mensch, der nicht fähig ist, sich auf zwei Beinen der Norm entsprechend fortzubewegen, stößt daher auf unterschiedlichste Probleme: Er muss sich in einer Welt behaupten, die in jeder Sekunde des Daseins den aufrechten Gang als unabdingbar voraussetzt. Sei es die Höhe eines Kleiderhakens, die Breite eines Weges oder die Länge einer Ampelphase: Stehen- und Gehenkönnen als sine qua non des Lebens überhaupt entscheiden nicht nur in technischer, sondern erst recht in gesellschaftlicher Hinsicht darüber, wie ein Mensch sein Dasein verbringt, welche Menschen er kennen und lieben lernen, welchen Beruf er ausüben und welche Orte er aufsuchen kann und darf.
Schon allein auf Grund dieser Einschränkungen nimmt der querschnittsgelähmte Mensch unter allen Körperbehinderten eine Sonderstellung ein. Ihn in den Lebensablauf nicht Behinderter einzugliedern und ihm zu ermöglichen, sein Leben unter denen zu führen, die sein Schicksal nicht teilen, muss daher erste Aufgabe einer erfolgreichen Therapie sein.
Im Idealfall soll der Patient durch eine speziell auf seine Behinderung abgestimmte Behandlung maximale körperliche Beweglichkeit, Geschicklichkeit und Kraft erreichen und diese Ressourcen funktionell richtig einzusetzen wissen.
In nicht wenigen Fällen ist es auch möglich, durch ein gezieltes Training die totale Lähmung der unteren Gliedmaßen zumindest teilweise zu überwinden. Wo früher keine Hoffnung für Querschnittsgelähmte bestand, den Rollstuhl jemals aus eigener Kraft verlassen zu können, sorgt jetzt eine neue Therapie für Aufsehen.
Seit längerer Zeit ist bekannt, dass Katzen unabhängig vom Gehirn einfache „Schreitprogramme“ im Rückenmark gespeichert haben. Diese Programme, so fanden amerikanische Wissenschaftler vor bereits über 10 Jahren heraus, können mit den richtigen Übungen so weit trainiert werden, dass selbst komplett querschnittsgelähmte Katzen damit reflexartig auf einem Laufband schreiten konnten – holprig zwar und ohne feinmotorische Koordination, aber mit einer „richtigen” Schrittbewegung, bei der ein Bein vor das andere gesetzt wird. Genau so gelang es, die Katzen so zu trainieren, dass sie nicht nur schreiten, sondern auch unter Belastung mit ihrem eigenen Körpergewicht stehen konnten. „Warum”, so fragte sich der Bonner Mediziner Prof. Dr. Anton Wernig, „sollte man nicht auch querschnittsgelähmten Menschen durch diese Stimulation einen Teil ihrer Beweglichkeit zurückgeben können?”.
So stellte er einfach nicht vollständig gelähmte Patienten, bei denen noch die Hoffnung auf teilweise funktionierende Reizleitungen bestand, auf ein Laufband. Von zwei Therapeuten unterstützt und von einem Tragegurt gehalten, setzte er ihnen so einen Fuß vor den anderen. Und tatsächlich: Bereits nach kurzem Training begannen einige Patienten mit ersten reflexartigen Schreitbewegungen. In der weiteren Erprobung dieser neuartigen Therapie zeigte sich, dass die Kontrolle einiger Patienten über die Bewegungen in einem längeren Trainingszeitraum signifikant verbessert werden konnte, sodass es ihnen nach Abschluss des Übungszeitraumes sogar möglich war, mit Hilfsmitteln (Rollator) 20–100 Meter weit ohne fremde Hilfe zu gehen. Einige weniger vorgeschädigte Patienten können sich heute auch über längere Strecken wieder allein fortbewegen und sind so nicht mehr auf den Rollstuhl angewiesen.
Als problematisch für die mittlerweile so genannte Lokomotionstherapie erwies sich allerdings schnell der große zu betreibende Aufwand beim Laufbandtraining. Für die behandelnden Therapeuten bedeutet dies nämlich einen nicht zu unterschätzenden Kraftaufwand: Sie müssen die Beine des Patienten über eine therapeutisch wirksame Zeitspanne immer wieder vor- und zurückbewegen. Zwar erleichterten im Laufe der Zeit immer raffiniertere Laufbandkonstruktionen und Tragegestelle den Ablauf der Therapie, die hohe körperliche Belastung für die behandelnden Physiotherapeuten konnte jedoch nur bis zu einem gewissen Maß reduziert werden. Schon bald waren so aus den Reihen derer, die der neuen Therapie durchaus nicht ablehnend gegenüber standen, kritische Stimmen zu hören.
Es dauerte jedoch noch lange, bis eine Alternative zum manuell geführten Training gefunden war, der „Lokomat”. Obwohl dieser Gangroboter im Prinzip nichts anderes ist als der Ersatz der menschlichen Hände durch eine Maschine, warf seine Entwicklung doch immense Probleme auf. Entwurf und Konzeption des Lokomaten konnten nur unter Rückgriff auf die Kenntnisse und die Unterstützung versierter Physiotherapeuten gelingen. Dabei war für alle an der Entwicklung Beteiligten die Umstellung vom Menschen auf den Roboter eine wissenschaftliche Herausforderung.
Die genaue Nachbildung des menschlichen Schrittes, die es ermöglicht, in weiten Teilen der Therapie auf die arbeitsintensive Hilfe gleich zweier Menschen zu verzichten, gilt inzwischen als eine der großen Innovationen der Medizintechnik der vergangenen Jahre. Mit dem Lokomaten, so hoffen seine Entwickler, können nun mehr und mehr Menschen von der Lokomotionstherapie profitieren. In den nächsten Jahren wollen die Erfinder des Gangroboters auf diese Weise möglichst vielen Menschen, die an den Rollstuhl gefesselt sind, mit dieser automatisierten Therapieform neue Chancen und Zukunftsmöglichkeiten eröffnen.
Ein Archivbeitrag* aus ORTHOpress 2 | 2000
*Archivbeiträge spiegeln den Stand zur Zeit der Erstveröffentlichung wieder. Die aktuelle Einschätzung des Sachverhalts kann durch Erfahrungszuwachs, allgemeinen Fortschritt und zwischenzeitlich gewonnene Erkenntnisse abweichen.