Krankengymnastik auf dem Pferd
Die moderne Krankengymnastik, deren Wurzeln bis in die Antike des mediterranen und fernöstlichen Raums zurückreichen, unterlag in den vergangenen 30 Jahren einem enormen Strukturwandel.
Was in den deutschsprachigen Ländern und Skandinavien von der Jahrhundertwende bis in die späten 50er-Jahre hinein als orthopädisches Heilturnen begann, entwickelte sich zunehmend zu einer komplexen Therapieform, die nahezu in allen medizinischen Disziplinen beheimatet ist und eine Vielzahl von passiven und aktiven Behandlungstechniken zur Schmerzbehandlung und Bewegungsförderung hervorbrachte.
Komplexe Krankheitsbilder erforderten komplexes Denken und innovative Behandlungskonzepte. Neben den autosomatischen Methoden, welche ausschließlich die Eigenarbeit mit dem Körper beinhalten, hielten andere Therapiemedien, wie Übungsgeräte (Medizinische Trainingstherapie) oder das Wasser (Wassergymnastik und aquales Training), Einzug in die Physiotherapie. Man machte sich die physikalischen Eigenschaften des jeweiligen Mediums zu Nutze.
Therapiemittel Pferd
Aber wie kam man auf das Therapiemittel Pferd? Die Anfänge der Hippotherapie zu Beginn der 70er-Jahre sind im Bereich der Sportmedizin und der inneren Medizin zu suchen. Zunächst empirische Beobachtungen an Personen (Reitern) mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen ergaben, dass die Bewegung des Pferdes sich auf den Patienten übertragen und eine Stimulation der inneren Organe und des Verdauungstraktes bedingten. Darüber hinaus ließen sich vielfältige lockernde, durchblutungsanregende, kräftigende und nicht zuletzt bewegungskoordinierende Effekte feststellen.
Aufbauend auf diesen Erkenntnissen begannen auch orthopädische Indikationsbereiche Eingang in diese sich eröffnende neue Therapiemöglichkeit zu finden. Parallel dazu enstanden die ersten therapeutischen Aktivitäten bei neurologischen Erkrankungen, vorwiegend mit cerebralparetischen Kindern, gefolgt von halbseitig gelähmten Erwachsenen (Hirninfarktpatienten), Multiple-Sklerose-Patienten und anderen neurologischen Krankheitsbildern.
Daneben entdeckten Heilpädagogen und Sportmediziner mit Schwerpunkt Behindertensport das Therapiemedium Pferd. Bei der anfänglich bestehenden breiten Palette von Einsatzmöglichkeiten kam es mit zunehmender Erfahrung, aber auch unter dem Zwang, die Methode wissenschaftlich zu analysieren und zu dokumentieren, allmählich zu einer Strukturierung und Definition der neuen Therapieform. Das therapeutische Reiten hatte Einlass in die moderne Medizin gefunden.
Das Pferd, drittes lebendiges Element in der Beziehung Patient und Therapeut
Das therapeutische Reiten gliedert sich heute in drei eigenständige Teilbereiche: die Hippotherapie, das heilpädagogische Reiten und das Behindertenreiten. Das Behindertenreiten ermöglicht Körperbehinderten, beispielsweise Beinamputierten oder Reitern mit fehlenden oder missgebildeten oberen Extremitäten, mit entsprechenden Hilfsmitteln und umfunktioniertem Equipment (Sätteln, Beinzügeln) den normalen Reitsport auszuüben.
Das heilpädagogische Reiten als pädagogisch-psychologische Interventionsform vermittelt überwiegend Kindern und Jugendlichen über das Medium Pferd positive Verhaltensänderungen in unmittelbarer Selbsterfahrung und ein tragfähiges Sozialverhalten. Zielgruppen sind die große Gruppe von Lernbehinderten, die der geistig Behinderten, der primär verhaltensauffälligen Kinder und Jugendlichen sowie ein Teil der psychisch erkrankten Erwachsenen.
Die Hippotherapie als dritte Gruppierung ist eine ärztlich verordnete und empfohlene krankengymnastische Behandlung auf neurophysiologischer Grundlage, deren Wirkungsweise und Erfolge umfassend wissenschaftlich dokumentiert und belegt sind.
Sie hat mit Reitsport ebenso wenig gemein wie Krankengymnastik im Wasser mit sportlichem Schwimmen. Für diese Therapieform werden speziell zu diesem Zweck ausgebildete Pferde eingesetzt, welche von geschulten Hilfskräften im Schritt und auf ebenem Boden in einer Halle geführt werden.
Die Behandlung der Patienten wird von Physiotherapeuten unter ärztlicher Aufsicht überwacht und geleitet, die neben einer reiterlichen Übungsleiterlizenz eine Hippotherapielizenz nach den Richtlinien des Zentralverbandes für Krankengymnastik/Physiotherapeuten e.V., des Kuratoriums für Therapeutisches Reiten und der Deutschen Reiterlichen Vereinigung (FN) erlangt haben. Eine Behandlung dauert, je nach Indikation und Kapazitäten des Patienten, zwischen 30 und 45 Minuten und erfolgt regelmäßig ein- bis zweimal pro Woche.
Die Indikationsliste zur Hippotherapie umfasst die meisten neurologischen Erkrankungen wie Cerebralparese (spastische Bewegungsmuster), Ataxien (massive Koordinationsstörungen), Multiple Sklerose, Querschnittslähmungen und andere Neuropathien. Des Weiteren viele orthopädische Krankheitsbilder wie Skoliosen (Wirbelsäulenverkrümmungen), Haltungsschäden, Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises und Bewegungsmangelerkrankungen.
Die Besonderheit der Bewegung des Pferdes
Durch das im Schritt gehende Pferd wird auf den Patienten ein Bewegungsmuster übertragen, das dem physiologischen Gangmuster des Menschen entspricht. Nimmt man eine Bewegungsanalyse vor, so handelt es sich dabei um das Kippen des Beckens nach vorne im Wechsel mit der Beckenaufrichtung, um die Auf- und Abbewegung des ganzen Körpers und außerdem um eine Rotationsbewegung um die Längsachse der Wirbelsäule.
Die Übertragung des so genannten dreidimensionalen Schwingungsrhythmus des Pferderückens wird ausgelöst durch die Phasenfolge des Pferdeschrittes, welche eine Vorwärts-seitwärts-Bewegung hervorbringt. Dadurch kommt es in der Muskulatur, die auf diese Bewegung reagieren muss, zu einem ständigen Wechsel zwischen Spannung und Entspannung im Sinne einer rhythmischen, dynamischen Muskelarbeit.
Obwohl die Hippotherapie oft als passive Methode bezeichnet wird, kommt es zu aktiven Reaktionen beim Patienten. So werden permanent das Gleichgewicht, die Koordination und eine ganze Reihe anderer motorisch-sensorischer Fähigkeiten angesprochen, herausgefordert und geschult. Zudem werden unterstützend und fördernd vom Patienten auf das Krankheitsbild abgestimmte krankengymnastische Übungen ausgeführt. Diese koordiniert der Behandler in der Regel vom Boden aus neben dem Pferd gehend; je nach Schwere des Krankheitsbildes ist es notwendig, dass er sichernd hinter dem Patienten auf dem Pferd sitzt.
Bewiesen ist: Die Hippotherapie beeinflusst positiv Körperbewusstsein, Raum-Lage-Bewusstsein, Bewegungsplanung, Reaktionsfähigkeit, Gleichgewicht, Geschicklichkeit und taktile Wahrnehmung. Dabei ist diese Variante der Krankengymnastik häufig nur Komplementärform im Verbund mit anderen klassischen Methoden der Physiotherapie.
Beispielsweise bewirkt der Schwingungsrhythmus des Pferderückens bei Patienten mit spastischen Lähmungen eine nachhaltige Senkung der Muskelspannung, welche dann in einer begleitenden konventionellen krankengymnastischen Behandlung die Umsetzung der Behandlungsziele wesentlich erleichtert.
Wer zahlt die Zeche?
Bei jedem neuen Medikament, jeder Therapiemethode oder medizintechnischen Entwicklung, deren Zweckmäßigkeit und Wirksamkeit bewiesen und belegt worden sind, stellt sich zwangsläufig die Frage, wer die Kosten dafür übernimmt. Ziel ist es, als offizielle Gebührenposition in den Leistungskatalog der Krankenversicherer – vor allem der gesetzlichen Krankenkassen – aufgenommen zu werden.
Die Hippotherapie, die anfänglich als Freizeitspaß für Behinderte angesehen wurde, hat es nie geschafft, sich als Regelleistung in der Gebührenordnung der Krankenversicherer zu etablieren. Sie hat zwar ihre Zweckmäßigkeit und Wirksamkeit in vielen wissenschaftlichen Untersuchungen und Studien nachgewiesen und wird auch von den meisten privaten und gesetzlichen Kostenträgern anerkannt, aber sie ist stets eine eigens zu gewährende Leistung geblieben. In jedem Einzelfall also wird, nach Antragstellung, einem orthopädisch-neurologischen Gutachten und ggf. einer Beurteilung durch den Medizinischen Dienst, entschieden, ob die Therapiemaßnahme bewilligt wird und in welchem Rahmen – oder nicht; eine reine Ermessensentscheidung. In den meisten Fällen wird die Hippotherapie nur dann bewilligt, wenn andere Behandlungsmethoden ausgereizt sind.
Nicht selten wird die Therapieform wegen „Unwirtschaftlichkeit“ abgelehnt. Diese Argumentation ist jedoch nicht haltbar, zumal die vorgeschlagenen Gebührensätze nicht über vergleichbaren anderen krankengymnastischen Gebühren liegen.
Dagegen ist der Aufwand gegenüber Behandlungen in einer Praxis um ein Vielfaches höher: Jedem Patienten wird ein Pferd, ein Therapeut und ein Pferdeführer bereitgestellt. Es fallen Kosten für Hallenmiete, Pferde, Therapeuten, Helfer und Hilfsmittel an, und das ist je nach Einrichtung nur mit Sponsoren und Spenden realisierbar. Vergütet wird einzig die krankengymnastische Leistung.
Die Auswirkungen der dreistufigen Gesundheitsreform und die Bestrebungen der jetzigen Regierung lassen für die Zukunft nichts Gutes hoffen – im Gegenteil. Gerade den gesetzlichen Krankenversicherern wird sogar Raum gegeben, die schon bestehenden, gewährten Bewilligungen zurückzuziehen.
Fakt ist – ob als Primär- oder Komplementärbehandlung: Für die Medizin ist das Pferd im neurologischen Sinne ein perfektes „Übungsgerät“. Und gleich, welche gesundheitspolitische Entwicklung sich einstellt, das Pferd ist aus dem Behandlungsangebot der Krankengymnastik nicht mehr wegzudenken.
aus OrthoPress 1 | 2000
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