Warum Venenleiden Fluggäste das Leben kosten können
Angstforscher sprechen heute davon, dass Ängste – als solche ein menschliches Urphänomen – zunehmend zivilisationsbedingt auftreten. So erklärt sich auch, warum ausgerechnet Menschen in Ballungsgebieten, die es ja gewohnt sind, in schwindligen Höhen zu leben, von der Höhenangst geplagt werden.
Ob nun Angst vor räumlicher Enge, vor großen Menschenansammlungen oder vor Insekten bzw. Spinnen – die moderne Angstforschung geht davon aus, dass hinter der jeweiligen Phobie eine Übertragung allgemeiner Zivilisationsängste (wie z.B. Angst vor Arbeitsplatzverlust, vor gesellschaftlichem Versagen) stecke. Auch die sog. Flugangst hat sich einen festen Platz im Kanon der Schrecken unserer Zeit erobert. Und anders als bei Platzangst oder Angst vor harmlosen Mäusen oder Spinnen können auch Außenstehende eher nachvollziehen, was die Betroffenen daran peinigt. Die Ironie des Ganzen: Auch bei der Angst vor dem Flugzeugabsturz handelt es sich gewissermaßen um eine Übertragung – wenn auch aus Unkenntnis. Nach neuesten Erkenntnissen nämlich sterben offenbar mehr Menschen – flugbedingt – nach der Landung als durch ein Flugzeugunglück. Das Fachblatt „Flight International“ etwa schätzt, dass weltweit bis zu 2000 Flugpassagiere dem sog. Economy-Class-Syndrom zum Opfer fallen. Demgegebenüber steht die Zahl von 3 Todesopfern pro 10 Milliarden Passagierkilometer („Statistik des sicheren Reisens“) bzw. jährlich rund 1000 Fluggästen, die bei etwa 50 Unfällen den Tod finden.
Hinter diesen spektakulären Meldungen der jüngsten Vergangenheit und der Aufmerksamkeit erregenden Wortneuschöpfung „Economy-Class-Syndrom“ aber steht dabei letztlich eine seit langem bekannte und dabei weit verbreitete Erkrankung des Venensystems. Und es liegt im Krankheitsbild selbst begründet, dass etwa ein Langstreckenflug mit seinen Begleiterscheinungen – wie Enge, Bewegungsmangel und beeinträchtigende Einflüsse auf die Zusammensetzung sowie das Gerinnungsverhalten des Blutes (hier, wie man neuerdings annimmt, durch den niedrigen Luftdruck) – als schwerwiegenste Komplikation das zur Folge haben kann, was klassischerweise als Thrombose bzw. Lungenembolie bezeichnet wird.
Das Fatale solcher Berichte hinsichtlich eines „gesunden“ Maßes an Gesundheitsbewusstsein: Der Problemverschärfung auf der einen Seite steht eine Problemverharmlosung auf der anderen gegenüber. Denn zum einen suggeriert bereits der Begriff, dass ein jeder Fluggast vom „Economy-Class-Syndrom“ betroffen sein könnte, zum anderen wird die Tatsache, dass unter bestimmten Umständen eine venöse Erkrankung generell – auch außerhalb der Luftfahrt – lebensbedrohliche Folgen haben kann, weit unterschätzt. Häufig nämlich wird das „Krampfaderleiden“ als rein ästhetisches Problem abgetan. Doch schon allein aus dem Grund, dass diese Erkrankung auch heute noch als nicht heilbar und nur hinsichtlich ihres Fortschrittes beeinflussbar gilt, sollten sich die Betroffenen bereits bei den ersten Anzeichen einer venösen Erkrankung in Behandlung begeben.
Funktion und Erkrankung der Venen
Während in den arteriellen Blutbahnen das Blut vom Herzen in den Körper strömt, fließt es in den venösen Blutbahnen zum Herzen zurück, d.h. es wird gegen die Schwerkraft transportiert. Für den Rücktransport des Blutes aus der Knöchelregion kann das Herz keine Unterstützung bieten. Pumpstationen wie Sprunggelenk und Wadenmuskel aber halten den Blutrückfluss in Gang und sorgen für das nötige Fließgleichgewicht im gesunden Körper. Neben der Beinmuskulatur, d.h. dem auf die Venen wirkenden Muskeldruck, wird die Leistung der Venen unterstützt durch die bei der Atmung im Brust- und Bauchraum auftretenden Druckschwankungen sowie die Schließfunktion der Venenklappen, die wie Rückschlagventile funktionieren. Diese Venenklappen öffen sich – bei gesunden Venen – nur in Fließrichtung zum Herzen und machen die Vene so zur „Einbahnstraße“: Ein Rückfluss des Blutes wird verhindert. Neben der Transportfunktion kommt den Venen zudem die Aufgabe zu, die Blutreserven aufzubewahren. 85% der gesamten Blutmenge befinden sich in den Venen. Um diese große Blutmenge fassen zu können, sind die Venenwände dehnbar. Eine ständige Überbeanspruchung des Fassungsvermögens führt dazu, dass die Venen ihre Elastizität verlieren: Es kommt zum venösen Stau mit den Symptomen Kribbeln und Müdigkeit in den Beinen. Sichtbares Zeichen einer Venenschwäche (chronische Veneninsuffizienz) sind die Krampfadern. Betroffen sind zumeist die oberflächlichen Venen, die dann in ihrer erweiterten, häufig geschlängelten und auch knotig veränderten Form mehr oder weniger gut durch die Haut sichtbar werden. Eigentliche Ursache des Venen- oder Krampfaderleidens (sog. „Varikosis“), von dem (nach Angaben von Phlebologen und Kompressionsstrumpfherstellern) in der Bundesrepublik ca. 20 Millionen Patienten betroffen sind, ist eine erblich bedingte Bindegewebsschwäche. Tiefer liegende Venenschädigungen sind zunächst unsichtbar, die späteren Folgen aber umso schwerwiegender: Durch die ungenügende Blutzirkulation kommt es zu einer unzureichenden Durchblutung des Gewebes und damit zu einem mangelhaften Abtransport von Schlackstoffen. Diese Ernährungsstörungen der Haut, die sich in Form von Verhärtung, Verfärbung und Entzündung zeigen, können zur Ausbildung von Geschwüren führen, die im Volksmund als „offenes Bein“ bekannt sind. Gravierender noch als die äußerst schmerzhafte Entzündung der oberflächlichen Venen (fachsprachlich: „Thrombophlebitis“) sind die Beinvenenthrombosen, die Bildung von Blutgerinnseln, welche – wie gesagt – zu einer lebensbedrohlichen Lungenembolie führen können. Bei mangelnder Bewegung nämlich kann sich das Blut derart in den vorgeschädigten unteren Venen stauen, dass ein Blutpfropf entsteht. Bei neuerlicher Bewegung, etwa beim Verlassen des Flugzeuges nach einem Langstreckenflug, kann sich der Pfropf dann lösen und durch den Körper trudeln und derart in der Lunge lebenswichtige Adern verstopfen (Lungenembolie). Aber nicht allein die genetische Veranlagung zur Varikosis birgt ein potenzielles Risiko für die schwerwiegende Komplikation einer Thrombose. Verantwortlich speziell für die Anfälligkeit wird ein mutiertes Gen für ein Protein (bei ca. 5% der Deutschen) gemacht, welches normalerweise die Blutgerinnung hemmt.
Über die Veranlagung hinausgehend, wird das Risiko eines Venenleidens – und damit in letzter Folge auch einer Thrombose – durch eine Reihe von das Krankheitsbild begünstigenden Faktoren erhöht. In der Schwangerschaft z.B. ist das Venensystem einer zweifachen Belastung ausgesetzt. Zum einen müssen die Venen ein vermehrtes Blutvolumen bewältigen, zum anderen dehnt das Hormon Progesteron das Bindegewebe und damit auch die Venen. Vorbeugende Maßnahmen sind hier insbesondere wichtig, um bleibende Venenschädigungen zu vermeiden, die als solche irreparabel sind. Darüber hinaus haben Frauen, welche die Pille nehmen (und zudem rauchen), ein um ein Vielfaches erhöhtes Thromboserisiko.
Die Behandlung
Die Therapie richtet sich je nach diagnostischem Befund. Dazu stehen neben der allgemeinen körperlichen Untersuchung u.a. spezielle Venenfunktionstests und Messverfahren durch Ultraschall oder Venenscreening mittels sog. Lichtreflexionsrheographie (LRR) zur Bestimmung der Abflussstörung in den unteren Extremitäten zur Verfügung.
Durch alle (derzeit) angewandten Maßnahmen kann lediglich der Zustand stabilisiert und können Beschwerden gelindert werden. Eine Behandlung ist aber immer notwendig, um ein Fortschreiten der Krankheit aufzuhalten.
1. Die medikamentöse Therapie soll Schmerzen und Entzündungen lindern und beseitigen, Thrombosen auflösen oder deren Entstehung hemmen. Die Elastizität der Venenwände ist auf diese (und andere) Weise nicht wiederherzustellen.
2. Sklerosierung: Auch hier gilt: Die geschädigte Vene kann nicht „repariert“, aber es kann Schaden begrenzt werden. Eine jede kranke Vene bedeutet für die anderen Venen eine zusätzliche Belastung, da das dabei – in die falsche Richtung – zurückfließende Blut ein zweites Mal über die gesunden Venen abtransportiert werden muss. Die Ausschaltung der kranken Vene bedeutet also eine Entlastung der gesunden Vene. Dazu wird in die Vene ein Verödungsmittel gespritzt, was in der Gefäßwand zur Entzündung führt und so die Venenwände miteinander verklebt. Demgegenüber sehen die Krankenkassen in der von einigen Hautärzten und Venenspezialisten praktizierten Laserung von Besenreisern und Krampfadern lediglich eine ästhetische Maßnahme.
3. Stripping: Bei dieser (in der Regel ambulant durchzuführenden) mikrochirurgischen Maßnahme im fortgeschritteneren Stadium wird die kranke Vene selbst bzw. werden Teile von ihr durch kleine Hautschnitte entfernt.
4. Tiefe Beinvenenthrombosen erfordern in der Regel eine stationäre Therapie und Bettruhe, ggf. die operative Beseitigung von Thromben. Geschwüre machen häufig eine umfassende, langfristige chirurgische und hautärztliche Behandlung erforderlich.
Die einzelnen Maßnahmen werden dabei jeweils unterstützt durch eine Kompressions- oder auch Wickeltherapie sowie die Einhaltung allgemeiner Verhaltensmaßregeln, welche die Patienten auch in Eigenregie und zur Prophylaxe beherzigen sollten.
Vorbeugende und unterstützende Maßnahmen:
1. Bewegung: Neben Wandern, Laufen oder Rad fahren wirken Schwimmen – vor allem in kaltem Wasser –, aber auch Tanzschritte und eine spezielle, regelmäßige Venengymnastik (u.a. die den Arbeitstag im Büro ständig begleitende sog. „Nähmaschinenübung“) positiv auf die Elastizität der Venen ein.
2. Generell gilt die „L-L-Regel“: Liegen und Laufen sind gut, Stehen und Sitzen – zumal mit überschlagenen Beinen – schlecht für das Venensystem. Beim Liegen sollten die Beine zudem immer hochgelagert (10 cm über dem Herzen) werden
3. Eine ausgeglichene, vitamin- und ballaststoffreiche Ernährung, Wechselduschen sowie eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr (stilles Wasser, Tee, Säfte; Alkohol dagegen entspannt die Muskulatur und begünstigt damit die Venenstauung; Kaffee trocknet den Körper aus) unterstützen den gesamten Stoffwechsel und Kreislauf und wirken sich damit auch positiv auf das Venensystem aus.
4. Kompressionsstrümpfe pressen erweitere Venen zusammen, die Venenklappen schließen wieder besser durch den äußeren Druck, der Rücktransport des venösen Blutes wird unterstützt und beschleunigt, das Einsickern von Flüssigkeit durch die Venenwände ins Gewebe (Ödem) verhindert. Vor allem bei längeren sitzenden oder stehenden Tätigkeiten sind sie ein Muss für Betroffene.
5. Zu vermeiden sind: Übergewicht (als Belastung der Beine, aber auch als Einschränkung der wichtigen Pumpstation Zwerchfell), Schadstoffe (vor allem von „Gefäßkillern“ wie Alkohol und Rauchen), enge Kleidung (welche die Blutzirkulation behindert), hohe Absätze (dies beeinträchtigt die Sprunggelenkspumpe sowie die Pumpleistung des Wadenmuskels), Bürsten der Beine (z.B. gegen Besenreiser) sowie jegliche Form von Überwärmung (durch Sonnenbad, Vollbad, Sauna etc.).
6. Vor einem Flug oder längeren Auto- und Busreisen sollten Thrombosegefährdete unbedingt den Arzt konsultieren.
Ein Archivbeitrag* aus ORTHOpress 1 | 2001
*Archivbeiträge spiegeln den Stand zur Zeit der Erstveröffentlichung wieder. Die aktuelle Einschätzung des Sachverhalts kann durch Erfahrungszuwachs, allgemeinen Fortschritt und zwischenzeitlich gewonnene Erkenntnisse abweichen.