Der Magen knurrt grimmig: Magenkrebs. Schwindelgefühle? Eindeutig Creutzfeld-Jakob-Krankheit. Dann auch noch Kopfweh: Gehirntumor. Und gestern der Abschiedskuss der neuen Bekannten: Tuberkulose.
Doch der Hausarzt kann nichts finden. Keine Krankheit – „kein körperlicher Befund“, wie es so schön heißt. Trotzdem klagt der Patient weiterhin über Schmerzen. Er traut seinem Arzt nicht. Vielleicht hat er eine neue, unbekannte Krankheit? Schnell zum nächsten Doktor. Wieder ohne Erfolg.
Aber der Patient leidet weiter, seelische und körperliche Qualen. Er leidet an einer Krankheit der Seele, die sich in körperlichen Symptomen ausdrückt. An Hypochondrie. Einem Krankheitswahn, einem Zustand übertriebener Besorgnis um die eigene Gesundheit, einer Furcht vor Krankheiten, so erklärt das Hexal Lexikon der Neurologie die Hypochondrie. Im Volksmund ist diese so genannte somatoforme Störung auch unter dem Begriff „der eingebildete Kranke“ bekannt – nach dem Lustspiel „Le Malade Imaginaire“ vom französischen Komödiendichter Molière, uraufgeführt vor 328 Jahren.
Der eingebildete Kranke gilt als lästig und unangenehm, bei Ärzten als schwieriger Kandidat. Doch Hypochonder werden zu Unrecht belächelt und als Simulanten abgetan. Schließlich durchlaufen sie mit der Kraft ihrer Gedanken eine schlimme Krankheit. Und auch psychosomatisch bedingte Schmerzen gelten in der Medizin als „echte“ Schmerzen, die auf Grund des Zusammenspiels von Seele (Psyche) und Körper (Soma) entstehen.
Was also ist ein „Hypochonder“?
Sorgen um die eigene Gesundheit und auch gewisse Krankheitsängste seien etwas ganz Normales, sagt Professor Winfried Rief, Leiter des Instituts für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität Marburg. Allerdings nur bis zu einem gewissen Punkt. Bis Lappalien zur gesundheitlichen Katastrophe werden – der Schubs in der Trambahn zum Rippenbruch und der Schnitt in den Finger zur Blutvergiftung. Mit dem Schnupfen ins Krankenhaus?
Wenn die Ängste vor körperlichen Krankheiten überhand nehmen, wenn sich alles nur noch um den eigenen Gesundheitszustand dreht, dann spricht man in der Psychologie von einer leichten Form der Hypochondrie. Nach Schätzungen von Professor Rief plagen sich mehr als sechs Millionen Deutsche mit hypochondrischen Ängsten herum. Und leiden schmerzhaft an der Kraft ihrer Einbildung.
Als selteneres Phänomen gilt die reine Form der Hypochondrie, die beklemmende Angst von einer tödlichen Krankheit befallen zu sein. Etwa ein Prozent der Bevölkerung, also rund 820 000 Frauen und Männer meist ab einem Alter von rund 20 Jahren, behauptet an Krebs erkrankt zu sein. Und das, obwohl ihr Arzt das Gegenteil diagnostiziert hat. Magenkrebs und Gehirntumore stehen nach Erfahrungen von Rief an erster Stelle der Hitliste der eingebildeten Krankheiten.
Aber auch der harmlose Abschiedskuss auf die Wange kann den Hypochonder zum „Schwindsüchtigen“ machen, weiß der Marburger Psychologe zu berichten. Doch damit nicht genug. Eine neue Phobie liegt in der Luft, so seine Mutmaßung: Die übertriebene Angst vor BSE, dem Rinderwahnsinn. Pfeffersteaks und Sauerbraten werden eine neue Generation von Hypochondern hervorrufen – nicht nur in Deutschland.
Die Hypochondrie tritt in allen Kulturen der Welt auf. „In den Industriestaaten ist es die Angst vor Krebs, in außereuropäischen Kulturen wie in Sri Lanka ist es die Angst, vom Teufel besessen zu sein“, meint Professor Rief. Hypochondrie, ein universales psychosomatisches Phänomen? Doch wo stecken die Wurzeln?
Wo liegen die Ursachen?
In dem, was für eine Gesellschaft wichtig ist, lautet die Anwort von Psychologe Rief: „Bei uns nimmt die Gesundheit einen Spitzenplatz ein. Der Mensch will immer perfekter werden, immer weniger Schwächen haben. Nur der Gesunde und Schöne wird geachtet“. Auch die Tendenz, wegen jedem kleinen Zipperlein zum Arzt zu rennen, habe in den vergangenen Jahren stark zugenommen, meint der Verhaltenstherapeut und Psychologe Daniel Nischk, der bei der Christoph-Dornier-Stiftung in Münster auf dem Gebiet der somatoformen Störungen forscht. Rücken- oder Kopfschmerzen hätten früher einfach zum Leben gehört. Sie seien als etwas ganz Normales, Unbedenkliches aufgefasst worden.
Ganz anders heute: Körperliches Unwohlsein oder Missempfinden? Nichts wie zum Arzt, heißt es in unserer Gesellschaft.
Die Folge: Arzt-Shopping oder auch Arzt-Hopping – das Wandern von einem Arzt zum nächsten. Das kostet richtig Geld. Fünf- bis 14fache Kosten verursacht ein Hypochonder mit seinen ständigen Arztbesuchen, Aufenthalten in Fachkrankenhäusern und Unikliniken, schätzt Nischk.
Die Krankenkassen stöhnen: Unnötige Untersuchungen, Therapien, Medikamente, Fehltage und Frührenten. Doch die psychische Komponente wird oft erst spät berücksichtigt. Denn bis ein Hypochonder endlich den Fachmann aufsucht, den er braucht, nämlich einen Verhaltenstherapeuten, vergehen oft mehr als fünf Jahre. So lange verbringt seine Seele in Wartezimmern.
Denn der Patient steht sich selbst im Weg. Eine seelische Ursache seines Leidens steht für ihn nicht zur Debatte – alles rein körperlicher Natur. Die Empfehlung des Arztes, doch endlich zum Psychologen zu gehen, bringt den Hypochonder zur Weißglut. „Nie und nimmer, lautet die trotzige Reaktion der eingebildeten Kranken“, berichtet Nischk, sie seien doch nicht verrückt.
Kann man Hypochondern helfen?
Psychotherapeuten und Verhaltenstherapeuten kramen jedoch nicht in der Seele der Hypochonder herum. Sie versuchen dem Patienten die Körperfunktionen zu erklären. Das komplizierte Ineinandergreifen von Körper und Psyche. Zum Beispiel den Zusammenhang von Stress und körperlichem Befinden. Mit Entspannungstechniken ebnen die Therapeuten den Ausstieg aus dem Teufelskreis der Einbildung: Wegen seiner Gewissheit krank zu sein muss sich der „Kranke“ meist nicht mit Konflikten auseinander setzen. Wünsche werden ihm erfüllt, vermisste Aufmerksamkeit ist plötzlich da, Mitleid und Anteilnahme sind Balsam für seine geschundene Seele. Zudem nimmt der „Kranke“ eine Schonhaltung ein, die wiederum zu Herzklopfen, Schwitzen oder Erschöpfung führen kann – der nächste Arztbesuch ist vorprogrammiert.
Mit einem psychotherapeutischen Crash-Kurs sind innere Konflikte, Schuldgefühle und Ängste jedoch nicht wie weggeblasen, wie Professor Rief aus seinen Verhaltenstherapien mit jährlich rund 100 Hypochondern weiß. Auch Sport und Fitnesstraining können helfen, dem Patienten ein neues Körpergefühl und positive Denkmuster zu geben. Wer den Schritt zum Verhaltenstherapeuten geschafft hat, für den stehen die Chancen gut. Damit der Gesundete in Zukunft nach einem Besuch im Feinschmeckerlokal genüsslich lächelt und auch das Gute-Nacht-Bussi der neuen Bekannten mit Schmetterlingen im Bauch statt im Krankenhaus endet.
ORTHOpress 4 | 2001
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